Europa- und Bürgerschaftswahl:SPD zittert vor Wahl-Wochenende

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Radler in Berlin fahren an einem Plakat von SPD-Spitzenkandidatin Katarina Barley vorbei. (Foto: AFP)
  • Der SPD droht mit Spitzenkandidatin Katarina Barley ein weiteres Debakel.
  • Alles über 18 Prozent würden die Sozialdemokraten als Erfolg werten, Umfragen prognostizieren derzeit zwischen 15 und 17.
  • Zugleich wird im kleinsten deutschen Bundesland Bremen gewählt, wo die Partei ebenfalls Gefahr läuft, die Regierung zu verlieren.

Von Peter Burghardt, Bremen, und Mike Szymanski, Bremerhaven

Ein sonniger Tag in Bremerhaven. Katarina Barley, die nationale Spitzenkandidatin der SPD für die Europawahl, steht auf der Brücke der Bosporus Highway, eines Autotransporters, der sich den mächtigen Bauch mit Pkws vollladen und noch in der Nacht auslaufen wird. Neben ihr steht der Mann von der Reederei. Er sagt: "Für die Kanzlerin hätten wir jetzt eine Hafenrundfahrt gemacht." Barley darf nun einen Augenblick lang träumen - und schließlich das Schiffshorn betätigen. Kanzlerin? "Da muss ich noch dran arbeiten", sagt sie.

Es ist ein seltsamer Moment in diesem insgesamt etwas seltsamen Wahlkampf für die SPD-Politikerin. Eigentlich kann Barley nicht gewinnen. Bei der Europawahl 2014 war die SPD mit Martin Schulz, damals EU-Parlamentspräsident, auf 27 Prozent gekommen. Im Umfragen erreicht die Partei derzeit nur 15 oder 17 Prozent.

Es würde schon genügen, wenn es Barley gelingt, den Niedergang zu stoppen. In der Parteiführung heißt es: Bei 15 Prozent oder weniger bei der Europawahl wird es schwierig für Parteichefin Andrea Nahles, die die Kampagne zu verantworten hat. 18 und mehr Prozent seien gut, 20 eine kleine Sensation. Wie es kommt, wird sich am Abend des 26. Mai zeigen, bei dem es nicht nur um das Große und Ganze, nämlich um Europa geht, sondern auch um das Kleine. Denn auch in Bremen und Bremerhaven wird gewählt. Seit 73 Jahren regiert die SPD das kleinste deutsche Bundesland, Bremen war immer der sichere Hafen für die Sozialdemokraten. Aber auch diese Gewissheit gilt nicht mehr.

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So kommt es, dass die SPD-Vorsitzende Nahles ihre Zukunft mehr oder weniger in die Hände einer Genossin und eines Genossen legen muss. Barley, 50, und Bremens Bürgermeister Carsten Sieling, 60, der um sein Amt kämpft.

Der besonnene Herr Sieling, Anzug, Brille, steigt an einem schwülwarmen Abend in seinen gekühlten Wahlkampfvan. Er hat im Einkaufszentrum nebenan gerade eine weitere Debatte hinter sich gebracht. Jetzt bringt ihn das Fahrzeug zurück ins majestätische Rathaus, in dem die SPD seit 1945 das Wort führt. Seit 1946 wurde sie 19-mal wiedergewählt. "Bremen geht nur sozial", steht auf dem weißen Fahrzeug mit Sielings Porträt. Auf die Bremer SPD-Plakate wurde zuletzt noch dieser Spruch geklebt: "Sozial statt Privatisieren". Sieling versucht im letzten Moment, die Macht mit einem Lagerwahlkampf zu retten. Die SPD-Bastion Bremen wankt.

Für den Europawahlkampf trägt Parteichefin Nahles die volle Verantwortung

Umfragen zufolge führt knapp, aber hartnäckig die CDU mit ihrem politischen Neuling Carsten Meyer-Heder, 58, IT-Unternehmer und CDU-Mitglied erst seit 2018. Sein Motto: Wenn es Politiker und die SPD in dem Stadtstaat nicht hingekriegt haben, dann müssen es eben ein Manager und die CDU versuchen. Bremen liege bei Schulden, Arbeitslosigkeit, Armut und Bildung ganz hinten. Sein Ziel ist ein Jamaika-Bündnis.

Sieling, SPD-Mitglied seit 1976, hält mit seiner Erfahrung dagegen und damit, dass es in Bremen mit ihm seit 2015 aufwärtsgegangen sei und mit CDU und FDP Privatisierung und Sozialabbau drohten. "Jamaika passt nicht zu Bremen", sagt er auf dem Rücksitz des Kleinbusses. Sieling setzt jetzt offiziell auf Rot-Rot-Grün, für die gewünschte Fortsetzung von Rot-Grün wird es nicht reichen. Eine große Koalition schließt er aus. "Wenn man eine progressive Politik will, dann braucht man auch ein progressives Regierungsbündnis", sagt er. SPD, Grüne und Linke hätten "eine satte Mehrheit", Weltoffenheit und sozialer Zusammenhalt gehörten zum Bremer Lebensgefühl. Aber die Grünen, die Königsmacher, halten sich alles offen, das Taktieren missfällt ihm. "Die Grünen müssen sich was überlegen", sagt Sieling. Wer heute grün wähle, der wisse nicht, "ob er nach der Wahl schwarz sieht".

Die Bundes-SPD hat auf Bremen nur bedingt Einfluss. Anfangs - so der nicht ganz unberechtigte Eindruck in Berlin - kam die Kampagne nicht wirklich in Gang; wobei man in der Parteizentrale nicht wusste, ob das mit der unaufgeregten Art der Bremer zu tun hat oder ob den Genossen dort nicht bewusst war, was gerade passiert. Inzwischen jedoch legt sich die Parteispitze in Bremen ins Zeug.

Dass Sieling nun auf Rot-Rot-Grün setzt, findet Zustimmung in der Parteiführung. Wenn ein solches Projekt irgendwo passe, dann im traditionell linken Bremen, heißt es. Hinter der CDU zu landen, würde allerdings trotzdem Schockwellen bis nach Berlin senden. Um das zu verhindern, gibt die SPD auf den letzten Metern Gas - in Bremen und mit Hilfe aus Berlin. Geht die Bremen-Wahl schief und fällt das Ergebnis bei der Europawahl enttäuschender aus als gedacht, dürfte sich die SPD über Nacht im Krisenmodus wiederfinden. Ob das dann das Ende von Nahles an der Spitze der SPD bedeutet? Der Punkt ist: Es gibt in diesem Jahr noch mehr zu verlieren. Nach der Sommerpause stehen Landtagswahlen in Brandenburg, Sachsen und Thüringen an - eine Partei in Auflösung können die Wahlkämpfer dort sicher nicht gebrauchen.

Für den Europawahlkampf trägt Andrea Nahles die volle Verantwortung. Sie hat sich Katarina Barley, die anfangs nicht wirklich wollte, als Kandidatin gewünscht und sie überzeugt, nach der Wahl das Ministeramt abzugeben, um nach Brüssel zu wechseln. Barley kommt bei den Leuten an, gerade weil sie nicht so laut und polternd auftritt. Es wird ihr auch nicht übel genommen, wenn sie sich bei Veranstaltungen verhaspelt oder einem russischen Propaganda-Sender Interviews gibt. "Tapsig" nennen das Parteikollegen. Barley lässt sich von alldem nicht wirklich irritieren. Sie schwebt gut gelaunt durch den Wahlkampf, sie setzt mit den Forderungen nach länderspezifischen Mindestlöhnen und mehr Steuergerechtigkeit auf ein "sozialeres Europa". Kandidatin und Programm passen zusammen.

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In ihrem ersten Jahr an der Parteispitze ist es Nahles gelungen, dann doch etwas Ruhe in die Partei zu bringen. Die Regierungsbilanz kann sich sehen lassen. Ein großer Teil dessen, was die SPD in den Koalitionsvertrag hineinverhandelt hat, ist umgesetzt oder befindet sich auf dem Weg. Geht es nach Nahles und Vize-Kanzler Olaf Scholz, dann ist die große Koalition noch lange nicht am Ende. Umso bitterer sind Vorstöße wie der von Juso-Chef Kevin Kühnert, der mit einem Zeit-Interview drei Wochen vor den Wahlen der SPD eine aufgeregte Sozialismus-Debatte samt Enteignungsfantasien aufgezwungen hat. Für ein paar Tage war die Einigkeit verflogen und das Gezänk zurück.

Bremens Bürgermeister Sieling sagt zu Kühnerts Vorstoß: "Unsere Bremer Probleme sind die Privatisierungspläne von CDU und FDP", die SPD sei hier für einen starken öffentlichen Sektor. Er fände es auch gut, wenn das geplante Mitte-links-Bündnis bundesweit Vorbild würde, mit Bremen "als Ort, an dem politisch neue Wege gegangen werden".

Fabriken ziehen vorbei, das grüne Ufer der Weser, an der sich Bremen 42 Kilometer entlangzieht, Bürgerhäuser, auch leer stehende Häuser. Sieling erinnert an die Bremer Strukturkrisen, "da geht's uns wie den Ruhrgebietsstädten, das hat schon Langzeitwirkung". Aber er meint: "Wir arbeiten uns da jetzt raus." Man habe den Haushalt in den Griff gekriegt, halte die Schuldenbremse ein und sei beim Wachstum der Bundesländer 2017 Erster und 2018 Zweiter gewesen.

Hat die lange so verwöhnte Bremer SPD, die sieben Jahrzehnte lang das ganze Bundesland durchdrungen hatte, den großen Wandel verschlafen und den Herausforderer jetzt unterschätzt? Seinen meist sanften Ton verliert Carsten Sieling eigentlich nur, wenn es um die orangen Plakate und fixen Ideen seines Rivalen Meyer-Heder geht, des politisch Spätberufenen aus der CDU. Er mache auch nicht mal schnell ein Unternehmen auf, sagt Sieling. "Bürgermeister ist kein Job, das ist Passion und Berufung." Da sitze man auch bei der Kanzlerin und in Brüssel, "da muss man sich schon mit den Dingen auskennen." Dann steigt er am Rathaus aus und geht in den Prachtbau, den die SPD noch schnell mit Links gegen Jamaika verteidigen will.

© SZ vom 22.05.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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