Wer Guido Strack nach seinen Zukunftsplänen fragt, der bekommt von ihm nur eine kurze Antwort: "Da gibt es nichts." In seinem früheren Leben war der 46-Jährige einmal ein ehrgeiziger Jurist, Familienvater, Beamter bei der EU-Kommission in Luxemburg. Ein Mann mit besten Karrierechancen. Jetzt sitzt er in seinem Reihenhaus im Kölner Stadtteil Deutz und hat Zeit zum Grübeln.
Nach außen hin führt Strack eine bürgerliche Existenz. Aber es gibt Tage, da ist er froh, wenn er überhaupt richtig auf die Beine kommt. Seit mittlerweile sieben Jahren ist er arbeitsunfähig, seine Ehe ist zerbrochen, er nimmt Tabletten gegen die Depressionen. Doch die Medikamente wirken nicht gegen dieses Gefühl der Ohnmacht, von dem er heimgesucht wird. "Wer anständig sein will", lautet Stracks Erfahrung, "der wird fertiggemacht."
Seit Jahren schon führt er einen aussichtslosen Kampf: Strack gegen die Europäische Union. Das Verfassen von Beschwerden und Klageschriften ist für ihn zum Lebensinhalt geworden. Sonst gibt es nur noch wenig, was ihn aufrecht hält.
15 Minuten für die ganze Lebensgeschichte
Im Mai wurde Strack vor den Haushaltskontrollausschuss des Europäischen Parlaments nach Brüssel geladen. Er hatte 15 Minuten Zeit, um seine Geschichte zu erzählen. Dabei ist alleine die Chronologie der Ereignisse gut dreizehn Seiten lang, und nur wenige Experten verstehen noch, worum es geht seit jenem 30. Juli 2002, als Strack einen für ihn verhängnisvollen Beschluss fasste: Er informierte Olaf, die europäische Behörde für Betrugsbekämpfung, über Missstände in seiner Dienststelle.
Wenige Wochen zuvor hatte die EU-Kommission ihre Beamten zur Meldung von finanziellen Unregelmäßigkeiten verpflichtet und ihnen Schutz vor Repressalien zugesichert.
Deshalb schilderte Strack, wie seine Vorgesetzten im Amt für Veröffentlichungen in Luxemburg einen Schaden verursacht hatten, den er auf wenigstens vier Millionen Euro schätzte: Es ging um die Zusammenfassung und Veröffentlichung von Rechtsakten der EU.
Ein Privatunternehmen sollte nach strikten Vorgaben mehrere hunderttausend fertige Seiten produzieren - doch die Firma lieferte miserable Qualität, und das auch noch zu spät. Statt aber Vertragsstrafen zu verhängen, sollen Stracks Vorgesetzte ohne sein Wissen die Konditionen zugunsten der Lieferanten geändert haben. Nach internen Berechnungen entstanden dadurch Mehrkosten von 58 Prozent.
All das teilte Strack den Ermittlern von Olaf mit. Er hätte womöglich besser den Mund halten sollen. Denn damit begann sein beruflicher Abstieg. Olaf beschäftigte sich eher lustlos mit dem Fall. Am 5. Februar 2004 wurden die Ermittlungen eingestellt. Die Vorwürfe reichten für disziplinarische Maßnahmen nicht aus, hieß es in dem elfseitigen Abschlussbericht. Dafür geriet nun Strack, der vermeintliche Denunziant, ins Visier seiner Chefs.
Er wechselte zwar die Stelle. Seine dienstliche Beurteilung aber fiel negativ aus. Strack glaubt, dass sich seine früheren Vorgesetzten revanchieren wollten: Strack sei nicht in der Lage, Mitarbeiter zu motivieren, hieß es. Er erhielt null Beförderungspunkte. "Da merkte ich, dass meine Karriere am Arsch ist", sagt er.
Ein Zusammenbruch, 40 Beschwerden
Am 1. März 2004 brach Strack in einer Besprechung heulend zusammen. Es war sein letzter Arbeitstag. Irgendwann in dieser Zeit schaltete er auf "Kampfmodus" um, wie er es nennt. Trotz seiner Depressionen trieben ihn zwei Fragen um: "Warum machen sie in meinem Fall nichts? Und was geht da überhaupt ab?" Seine damalige Frau riet ihm zwar, die Angelegenheit nicht weiter zu verfolgen. Denn das berufliche Unglück ihres Ehemanns wucherte ins Private hinein.
Strack jedoch bündelte seine Energie, um rehabilitiert zu werden. Sein Leben nahm damit eine Wendung ins Kafkaeske: Mittlerweile ist er frühpensioniert, die EU-Kommission erkannte seine Krankheit als berufsbedingt an.
Strack hat gut 40 Beschwerden und Klagen gegen seinen früheren Arbeitgeber eingereicht. Mal ging es um Zugang zu Dokumenten, mal um Schadenersatz oder sein Dienstzeugnis. Es gab Niederlagen für ihn, auch Teilerfolge. Er wandte sich an den Ausschuss, der Olaf überwacht: Um Einzelfälle kümmere man sich nicht, wurde ihm beschieden.
Strack gilt längst als Nervensäge, als Altfall. Die EU-Bürokratie hat andere Probleme, als sich mit komplizierten Vorgängen zu beschäftigen, die Jahre zurückliegen. Auch für Strack sind Verbündete wie Gegner nur noch schwer zu greifen: Beamte und Abgeordnete wechseln, bloß er bleibt auf seinen unüberschaubaren Akten sitzen. Olaf teilt mit, die Angelegenheit sei abgeschlossen.
Nur kein Wort zum Vorgesetzten!
Nur Strack steckt darin fest: "Die Aufrechten enden in Resignation", rief er im Mai den Mitgliedern des Kontrollausschusses zu und meinte damit auch sich selbst. Im Sitzungssaal verloren sich bei der Anhörung nur ein paar Abgeordnete, unter ihnen Inge Gräßle, eine Europa-Parlamentarierin der CDU. Zu ihren Aufgaben gehört die Betrugsbekämpfung in der EU. Sie sagt: "Ich habe immer an den Dienstweg geglaubt." Das aber hat sich geändert, seit sie vor acht Jahren vom Landtag in Stuttgart nach Brüssel wechselte.
Damals kannte sie noch nicht das Wort Whistleblower, mit dem Menschen bezeichnet werden, die in Firmen oder Behörden auf Missstände hinweisen.
Ein Mann wie Strack war in ihren Augen allenfalls ein Querulant. Inzwischen kennt sie eine Reihe ähnlicher Fälle: "Da kommen Leute mit ganzen Aktenordnern zu mir", sagt sie, "jede dieser Begegnungen erschüttert mich aufs Neue." Erst kürzlich habe sie mit "extrem honorigen" EU-Beamten darüber geredet, wem sie einen Korruptionsverdacht melden würden. Die Antwort fiel einhellig aus: "Niemals dem Vorgesetzten."
Denn in aller Regel ergeht es Whistleblowern wie Strack. Der strittige Sachverhalt wird nie aufgeklärt, dafür wendet sich die riesige Bürokratie gegen den Störenfried: "Die Leute werden gebrochen. Am Ende sind ihre privaten Beziehungen und die Karriere zerstört", sagt Gräßle, "das sind alles Fälle für den Psychiater."
Dass diese Einschätzung keineswegs übertrieben ist, bestätigt ein Gutachten der Unternehmensberatung PricewaterhouseCoopers (PwC). Sie hat die Praxis des Whistleblowings in EU-Behörden untersucht. Das Ergebnis: Wer auf Missstände hinweist, riskiert Job und Gesundheit und endet als Frühpensionär. Landet ein Fall vor Gericht, dann beschäftigen sich die Richter fast ausschließlich mit Verfahrensfragen.
"Die Erfolgsrate ist sehr niedrig", lautet das Fazit von PwC. Schon deshalb mangele es an positiven Beispielen, die potentielle Hinweisgeber ermutigen könnten. Auch Inge Gräßle hat beobachtet, dass in den vergangenen Jahren die Zahl der Whistleblower in der EU stark abgenommen hat. Das liegt nach ihrer Einschätzung nicht etwa an einer verbesserten Verwaltungspraxis, im Gegenteil: "Es gibt hier die Tendenz, die Probleme unter den Teppich zukehren."
Doch was kann sie dagegen tun? Inge Gräßle gesteht, sie sei ratlos.
Unregelmäßigkeiten bei der Konsolidierung von Rechtsakten" - mit so einem Thema konnte Strack auch in den Medien keine Aufmerksamkeit erregen. Außerdem trage er mittlerweile das große Q auf der Stirn, sagt er: Q wie Querulant. 2006 gründete Strack den Verein Whistleblower-Netzwerk, in dem sich 74 Menschen zusammengeschlossen haben, denen Ähnliches widerfahren ist wie ihm. Eine ehemalige Bankerin ist dabei, drei frühere Steuerfahnder - und die Berliner Altenpflegerin Brigitte Heinisch: Sie hatte jahrelang auf die Personalknappheit und mangelnde Hygiene in einem Heim hingewiesen.
15.000 Euro Entschädigung für eine fristlose Kündigung
Weil nichts geschah, erstatte sie Strafanzeige gegen ihren Arbeitgeber - und wurde Anfang 2005 fristlos gekündigt. Auch sie hatte sich jahrelang erfolglos durch die Instanzen geklagt, bevor ihr im Juli 2011 der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte Recht gab: Die Kündigung verstoße gegen das Grundrecht auf Meinungsfreiheit, urteilten die Richter und sprachen Heinisch eine Entschädigung von 15.000 Euro zu.
Davon kann Strack nur träumen, denn ausgerechnet ihm als EU-Beamten ist der Weg vor den Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg versperrt: Die EU ist im Gegensatz zu ihren Mitgliedsstaaten bisher noch nicht der Menschenrechtskonvention beigetreten.
Sollte er nicht endlich aufgeben, ein neues Leben anfangen, einen anderen Job suchen? "Wer will denn einen wie mich noch?", sagt Strack. Nein, er macht weiter, obwohl inzwischen die neue Partnerin unter seiner Fixierung auf den Rechtsstreit leidet. Aber er kann nicht anders.
Er möchte endlich wissen, ob es richtig oder falsch war, was er vor nunmehr neun Jahren getan hat. Neun Verfahren sind vor Gericht noch anhängig.