Rüstung und Ukraine:Ein EU-Kommissar für Verteidigung soll es richten

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Ein ukrainischer Soldat neben Munition an Bord des polnischen Artilleriegeschützes "AHS Krab". Europa hat große Schwierigkeiten, Kiew Nachschub an Geschossen zu liefern. (Foto: Dmytro Zhyhinas/dpa)

Brüssel will ein weiteres Ressort einrichten, um leichter Munition zu beschaffen und Europa wehrhafter zu machen. Aber kann ein neuer Posten die Probleme lösen?

Von Hubert Wetzel, Brüssel

Seit zwei Jahren tobt im Osten Europas ein großer Landkrieg. Seit zwei Jahren reden die Europäer darüber, dass sie ihre Rüstungsindustrien "hochfahren" müssen, um die Ukraine mit Waffen und Munition beliefern und ihre eigenen Arsenale auffüllen zu können. Und seit zwei Jahren wird in Brüssel darüber nachgedacht, welche Rolle die EU bei diesem Hochfahren, Liefern und Füllen spielen soll.

Die Bilanz ist, zurückhaltend formuliert, mager. "Trotz aller Lippenbekenntnisse ist bis dato kein Cent aus der EU geflossen", heißt es aus Kreisen der Rüstungsindustrie. Zwar gibt es einen EU-Etat namens European Peace Facility. Aus diesem können sich Staaten, die aus ihren nationalen Beständen Militärgerät an die Ukraine abgeben, einen Teil der Kosten erstatten lassen. Aber was gemeinsam aufgegebene und finanzierte Bestellung von neuen Waffen und neuer Munition oder die Förderung des Ausbaus der europäischen Rüstungskapazitäten mit EU-Geld angeht - Dinge, die in Brüssel seit Monaten immer wieder angekündigt werden -, tut sich bisher fast nichts.

Europa will sich wehren können

Das soll sich ändern. Wie die derzeitige und vermutlich auch künftige EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen angekündigt hat, wird es von Herbst an einen EU-Kommissar für Verteidigung geben, der sich ausdrücklich darum kümmern soll, dass Europa genügend Waffen hat, um der Ukraine zu helfen und sich selbst im Ernstfall gegen Russland wehren zu können. Bisher ist dieses Portfolio aufgeteilt: Verteidigung fällt sowohl in die Zuständigkeit von Binnenmarktkommissar Thierry Breton als auch in die des Außenbeauftragten Josep Borrell, dem die Europäische Verteidigungsagentur (EDA) untersteht.

Man findet in Brüssel zwar niemanden, der die Idee eines Verteidigungskommissars so richtig falsch findet. Die Defizite Europas bei der Rüstungsproduktion sind ebenso eklatant wie bekannt. "Wir haben schon vor Monaten dafür plädiert, einen Verteidigungskommissar einzusetzen", sagt ein europäischer Diplomat.

Es sind allerdings sehr viele Beobachter zu finden, die davor warnen, dass allein die Ernennung eines neuen Kommissars kein einziges Problem löst, sondern sich als Scharade erweisen könnte. "Ein Kommissar, der keine Kompetenzen hat und nicht über Geld verfügen kann, ist sinnlos", sagt die Außen- und Sicherheitspolitikerin Hannah Neumann, die für die deutschen Grünen im Europaparlament sitzt.

Schuldenbremse als Sicherheitsrisiko?

Ein europäischer Verteidigungskommissar wäre nach Neumanns Meinung nur dann effektiv, wenn die Mitgliedsländer einige bisher eifersüchtig gehütete nationale Zuständigkeiten an Brüssel abgeben würden: Zum einen die Entscheidung darüber, welche Waffen gemeinsam gekauft werden, damit "nicht jedes Land gegen jedes andere auf dem Markt konkurriert". Zum anderen müsste die EU nach strategischen Gesichtspunkten entscheiden, welches Land welches Material bekommt. "Munition muss zum Beispiel zuerst an die Ukraine und die Ostflanke gehen", sagt Neumann.

Und drittens müsse sichergestellt sein, dass genügend Geld vorhanden sei, so Neumann. Binnenmarktkommissar Breton hat aus diesem Grund bereits vorgeschlagen, einen 100-Milliarden-Euro-Fonds aufzulegen, aus dem die EU eine gemeinsame Rüstungsbeschaffung und -produktion finanzieren soll. Ob es dazu kommt, ist angesichts leerer öffentlicher Kassen in Europa allerdings offen. Da müsse sich dann zum Beispiel auch die Bundesregierung überlegen, ob die deutsche Schuldenbremse haltbar sei. "Die entwickelt sich zu einem Sicherheitsrisiko für Europas Bürgerinnen und Bürger", sagt Neumann.

Auch in Industriekreisen wird der praktische Nutzen eines Verteidigungskommissars eher skeptisch gesehen. In einem so fundamentalen Bereich wie Verteidigung wolle kein Staat auf Souveränität verzichten, heißt es. Diplomaten bestätigen diese Sicht: Verteidigung sei Sache der Mitgliedsstaaten, nicht der Kommission, sagt ein Regierungsvertreter. Allenfalls bei Rüstungsfragen sei eine größere Rolle der Brüsseler Behörde denkbar. Und auch dabei müsse man genau schauen, welche Befugnisse der neue Kommissar bekommen sollte - jenseits des Etiketts "Verteidigung", das jetzt in Wahlkampfzeiten gut klinge.

Er gilt als fachlich als geeignet, sollte ein Verteidigungskommissar gebraucht werden: Polens Außenminister Radek Sikorski (re.), hier mit dem EU-Außenbeauftragten Josep Borrell. (Foto: Dominika Zarzycka/Sopa/Zuma Press Wire/dpa)

Als höchst ernüchterndes Beispiel dafür, wie eiftig die EU-Regierungen ihre Hoheit über die Verteidigung wahren, wird in Brüssel der Versuch der EU im vergangenen Jahr angeführt, über Rahmenverträge zwischen der EDA und europäischen Rüstungsfirmen für eine Milliarde Euro Hunderttausende Artilleriegranaten für die Ukraine zu beschaffen. Unter dem Strich wurden auf diesem Weg aber nur etwa 50 000 Schuss eingekauft. Mehrere EU-Regierungen, darunter die deutsche, verzichteten lieber auf europäische Zuschüsse und bestellten direkt bei der Industrie, als die EDA einzubeziehen, die als zu schwerfällig und bürokratisch galt. Experten erwarten nicht, dass sich dieses Verhalten ändert, nur weil ein "European Commissioner for Defence" ernannt wird. Nach Angaben der EDA können die europäsichen Regierungen über die geschlossenen Rahmenverträge weiterhin Bestellungen für Artilleriegranaten aufgeben. In Rüstungskreisen wird allerdings angezweifelt, dass die 2023 vereinbarten Mengen und Preise weiterhin gelten. Auf jeden Fall bleiben die Europäer bei der Artilleriemunition weiterhin deutlich unter dem Produktionsniveau Russlands von vier Millionen Schuss pro Jahr.

Spekulationen über einen möglichen Kandidaten aus Polen

Brüssel wäre freilich nicht Brüssel, gäbe es über ein neues ranghohes Amt nicht schon Personalspekulationen, noch bevor Sinnhaftigkeit und Zuschnitt abschließend geklärt sind. Und so kursiert bereits ein Name, wer der neue Verteidigungskommissar werden könnte: Radek Sikorski, einstiger Verteidigungs- und derzeitiger Außenminister Polens, dazwischen Abgeordneter im Europaparlament.

Fachlich sei Sikorski sicher äußerst qualifiziert für den Posten, sagen Leute, die ihn kennen. Als Vertreter eines Landes am östlichen Rand der EU, das sich mit der direkten Bedrohung durch Russland auskennt, sei er wohl doppelt geeignet. Von der Leyen hat ebenfalls angedeutet, dass sie das Amt gern mit einer Person aus dem östlichen Mitteleuropa besetzen würde.

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Allerdings hat Sikorski während seiner Zeit als Europaabgeordneter Hunderttausende Euro pro Jahr damit verdient, neben seiner Parlamentsarbeit außereuropäische Regierungen und Konzerne zu beraten. Unter anderem gehörten die Vereinigten Arabischen Emirate zu seinen Klienten. Sikorskis Tätigkeit war, soweit man weiß, zwar vollkommen legal. Aber sie könnte im EU-Parlament, das seiner Ernennung zum Kommissar zustimmen müsste, unschöne Erinnerungen an die Geldflüsse zwischen EU-Abgeordneten und Katar wecken, deren Entdeckung Ende 2022 einen massiven Skandal auslöste.

Doch es mangelt nicht an ehrgeizigen Osteuropäerinnen und -europäern, die ihre Posten daheim gerne für ein hohes außen- oder sicherheitspolitisches Amt in Brüssel tauschen würden. Die estnische Regierungschefin Kaja Kallas steht ebenso bereit wie der litauische Außenminister Gabrielius Landsbergis oder sein lettischer Kollege Krišjānis Kariņš. "Das Büro des neuen Kommissars zu füllen", so drückt ein Diplomat es aus, "wird deutlich leichter sein, als Europas Rüstungsprobleme zu lösen."

Amerkung der Redaktion: In einer früheren Version dieses Texts hieß es, die Rahmenverträge, welche die Europäische Verteidigungsagentur (EDA) mit Munitionsherstellern geschlossen hat, seien inzwischen "ausgelaufen". Das ist nach Angaben der EDA nicht der Fall. Der Text wurde entsprechend angepasst.

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