Europäische Union:Die zersplitterten Staaten von Europa

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Die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock mit ihrem österreichischen Amtskollegen Alexander Schallenberg beim Treffen in Luxemburg. (Foto: Virginia Mayo/AP)

Der Konflikt zwischen Israel und der Hamas macht die vielen Uneinigkeiten innerhalb der EU zu einem Problem.

Von Hubert Wetzel, Brüssel

Zumindest ein Kollege brachte ein bisschen Optimismus mit zum Treffen der Außenministerinnen und -minister am Montag in Luxemburg. Gabrielius Landsbergis aus Litauen stellte sich bei seiner Ankunft vor die Mikrofone und sagte diesen Satz: "Ich erwarte, dass wir ein sichtbarer und wichtiger Partner bei der Lösung der Krise zwischen Israel und den Palästinensern sein werden."

Das Problem: Mit dem "wir" meinte Landsbergis die Europäische Union. Und die ist, was den israelisch-palästinensischen Konflikt angeht, von so vielen tiefen Rissen und Gräben durchzogen, dass schwer erkennbar ist, wie sie ein "wichtiger Partner" bei der Lösung sein soll. Eher erwarte sie das gegenteilige Schicksal: Europa, so warnt ein Diplomat in Brüssel, drohe sich mit seiner unklaren Haltung selbst als Akteur "aus dem Spiel zu nehmen".

Streit gibt es darüber, wer für die EU sprechen darf

Seit dem Terrorangriff der palästinensischen Hamas auf Israel vor zwei Wochen, bei dem mehr als 1400 Menschen getötet wurden, sind mindestens drei Bruchlinien in der EU offenkundig geworden. Erstens: an der Spitze der Union. Das seit Langem angespannte Verhältnis zwischen Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen auf der einen Seite und Ratspräsident Charles Michel sowie dem Außenbeauftragten Josep Borrell auf der anderen scheint inzwischen irreparabel zerrüttet zu sein.

Grund ist zum einen der Streit um außenpolitische Kompetenzen. Konkret: Wer darf für die EU sprechen? Zum anderen gibt es aber auch sehr unterschiedliche politische Ansichten: Von der Leyen hat sich im Namen der gesamten EU klar hinter Israel gestellt und betont das Recht des überfallenen Landes auf Selbstverteidigung. Michel und Borrell dagegen ermahnen Israel, sich ans humanitäre Völkerrecht zu halten und bei Gegenschlägen in Gaza nicht die palästinensische Zivilbevölkerung zu treffen.

Manche EU-Länder haben deutlich mehr Sympathien für die Palästinenser als andere

Gespeist wird dieser Streit durch Uneinigkeit unter den EU-Mitgliedsländern - die zweite Bruchlinie. Kein Konflikt in der Welt spaltet die Europäer so wie der israelisch-palästinensische, und das schon seit Jahrzehnten. Staaten wie Spanien, Irland, die nordischen Länder oder Luxemburg haben deutlich mehr Sympathien für die Palästinenser als etwa Deutschland, die Niederlande oder Österreich. Mit der Eskalation der Gewalt im Nahen Osten ist auch dieser Gegensatz zwischen dem propalästinensischen und dem proisraelischen Lager in Europa wieder voll aufgebrochen.

Die dritte Bruchlinie verläuft zwischen einzelnen Mitgliedstaaten und dem EU-Spitzenpersonal in Brüssel. So wurde von der Leyen wegen ihrer eigenmächtigen Solidaritätserklärung für Israel in manchen europäischen Hauptstädten scharf kritisiert. Einige Diplomaten sagten sogar, die Kommissionspräsidentin habe dadurch ihre Chance für eine zweite Amtszeit beschädigt.

Vertreter anderer Regierungen lassen dagegen kaum ein gutes Haar an Michel und Borrell. Der Außenbeauftragte verbreite Positionen, die nicht dem Konsens der 27 EU-Länder entsprächen, sagen Diplomaten. Dass Borrell vor zwei Wochen zur ersten Videokonferenz der EU-Außenminister nach dem Angriff der Hamas nicht nur den israelischen Kollegen einlud, sondern auch den palästinensischen, damit dieser seine Sicht auf die Lage erklären könne, löste in Brüssel ungläubiges Kopfschütteln aus.

Uneinigkeit besteht auch bei der Forderung nach einer "humanitären Pause"

Am Montag setzte sich die EU-interne Kakophonie fort. Borrell sagte bei dem Ministertreffen in Luxemburg, dass er eine "humanitäre Pause" befürworte. Das ist eine nicht unumstrittene Formulierung. Gemeint ist damit de facto eine Waffenruhe - ohne diesen Begriff zu benutzen -, damit die Zivilbevölkerung in Gaza von Ägypten aus mit humanitären Hilfsgütern versorgt werden kann. In der Praxis müsste dazu Israel seine Militäraktionen gegen die Hamas unterbrechen.

Zugleich kursierte in Brüssel ein Entwurf für die Abschlusserklärung des für Donnerstag und Freitag angesetzten EU-Gipfeltreffens. Die EU schließe sich der Forderung nach einer "humanitären Pause" an, hieß es in dem Dokument. Ein expliziter Verweis auf Israels Recht auf Selbstverteidigung fehlte hingegen. Der Entwurf stammte aus dem Büro von Michel, der anders als von der Leyen seit der Terrorattacke der Hamas am 7. Oktober noch nicht persönlich mit Israels Regierungschef Benjamin Netanjahu gesprochen hat. Um zur offiziellen politischen Linie der EU zu werden, müsste die Formulierung beim Gipfel von allen 27 Staats- und Regierungschefs gebilligt werden.

Die Forderung nach einer Waffenruhe, die auch die Vereinten Nationen sowie arabische Staaten erheben, wird von einigen EU-Ländern mitgetragen, darunter Spanien, Irland und Frankreich. Der irische Außenminister Micheál Martin sagte in Luxemburg: "Das Leid unschuldiger Zivilisten, insbesondere von Kindern, hat ein Ausmaß erreicht, das eine sofortige Einstellung" der Kämpfe erfordere.

Andere EU-Staaten, zu denen Deutschland und Österreich gehören, sind allerdings dagegen, eine Waffenruhe zu fordern - zumindest zum jetzigen Zeitpunkt, solange die Hamas noch Raketen auf Israel schießt, verschleppte Zivilisten als Geiseln hält und das israelische Militär gerade erst mit seiner Gegenoffensive begonnen hat.

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Man müsse "vorsichtig sein, was wir fordern", sagte der österreichische Außenminister Alexander Schallenberg am Montag in Luxemburg. Zunächst habe Israel das Recht, sich zu verteidigen. Zudem müsse die Hamas alle Geiseln sofort bedingungslos freilassen. Auch die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock stellte am Montag klar, dass es im Moment nicht um eine Waffenruhe gehen könne, sondern die "Bekämpfung des Terrorismus essenziell" sei. "Es wird nur Frieden und Sicherheit für Israel und die Palästinenserinnen und Palästinenser geben, wenn der Terrorismus bekämpft wird", sagte sie. Zugleich müsse der palästinensischen Zivilbevölkerung humanitär geholfen werden. Beides zu tun, sei zwar die "Quadratur des Kreises", so Baerbock. Aber die müsse Europa jetzt schaffen.

Borrell sagte nach dem Treffen in Luxemburg, es habe unter den 27 Ministerinnen und Minister einen "Konsens" gegeben, dass eine humanitäre Waffenruhe notwendig sei. Das war allerdings nach Angaben von Diplomaten keine korrekte Darstellung des Meinungsbilds unter den EU-Regierungen, sondern - typisch Borrell - seine etwas freie Interpretation der Lage. Es habe zwar eine Debatte zu der Frage einer Feuerpause gegeben, so ein Diplomat, aber etliche Staaten seien im Moment durchaus noch dagegen, dass die EU diese fordern sollte.

Insofern ist unklar, ob alle EU-Länder sich tatsächlich schon bis zum Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs Ende dieser Woche darauf einigen können, von Israel eine militärische Pause zu verlangen - egal wie die Formulierung im Abschlussdokument dann genau lautet. Manche Diplomaten in Brüssel halten es für möglich. Andere Regierungsvertreter sind eher skeptisch. Dafür, so heißt es, sei es vielleicht einfach zu früh.

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