Europäische Union:Trittsicher in die Fettnäpfe

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Der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell aus Spanien steht in Brüssel in der Kritik. (Foto: John Thys/AFP)

Leere Versprechen an die Ukraine, eine Garten-Predigt und sonderbare Bemerkungen zur Frauen-Fußball-WM - der EU-Außenbeauftragte Borrell löst immer wieder Kopfschütteln aus. Ist er noch auf der Höhe der Zeit?

Von Hubert Wetzel, Brüssel

Vielleicht ist Josep Borrell ja einfach seiner Zeit voraus. Vielleicht ist er ein Visionär, der schon das Schlusswort zu einer Debatte spricht, wenn andere noch im Nebel der Diskussion nach dem Ergebnis suchen. "Wir werden", so verkündete der Außenbeauftragte der Europäischen Union Ende Februar 2022 selbstbewusst, der Ukraine "auch Kampfjets liefern". Einige Tage später musste Borrell eilig zurückrudern - niemand in der EU hatte vor eineinhalb Jahren Interesse daran, laut und öffentlich über diese Art der Waffenhilfe für Kiew zu reden.

Heute sieht das anders aus. Die Niederlande, Dänemark und Norwegen sind bereit, F-16-Jets an die Ukraine abzugeben und die Piloten auszubilden. Hatte Borrell also recht damals? War er nur so mutig, Dinge auszusprechen, die die ängstlichen EU-Regierungen sich nicht zu sagen trauten?

Das kann man so sehen. Weit verbreitet ist diese Meinung in Brüssel allerdings nicht. "Ich würde eher sagen, Borrell ging es in diesem Fall wie einer stehenden Uhr", sagt ein europäischer Diplomat. "Die geht auch zweimal am Tag für eine Sekunde richtig, den Rest der Zeit über aber falsch."

"Eine totale Fehlbesetzung", sagt ein Diplomat

Tatsächlich bewegt sich Borrell, was seine öffentlichen Äußerungen angeht, seit dem Moment der Hellsichtigkeit im Februar 2022 vorwiegend in jener Sphäre, die man als "Rest der Zeit" bezeichnen könnte. Der 76 Jahre alte Sozialdemokrat aus Spanien löst in Brüssel, wenn er vor Mikrofone tritt, mit beunruhigender Regelmäßigkeit zwei Reaktionen aus: Kopfschütteln oder Augenrollen. "Als Außenbeauftragter, der Europa in der Welt vertritt und Vizepräsident der EU-Kommission ist, ist er eine totale Fehlbesetzung", sagt der Diplomat.

Die Liste von Borrells Fehltritten ist lang. Lang genug jedenfalls, dass das Online-Magazin Politico kürzlich problemlos eine Rangliste der fünf peinlichsten Patzer zusammenstellen konnte. Das verfrühte Gerede über Kampfjets, die "wir" angeblich der Ukraine liefern, steht darauf. Ebenso die Wutrede, in der Borrell dem von ihm geleiteten diplomatischen Corps der EU vorwarf, "zu langsam" zu sein und zu verpennen, was in der Welt passiere.

Ein weiterer Borrell-Klassiker: die Garten-Dschungel-Metapher, geprägt im vergangenen Oktober. Europa, so lobte Borrell damals, sei der Garten der Welt, blühend und friedlich. Fast alles drumherum sei Wildnis, "und der Dschungel könnte den Garten überwuchern", warnte er. Diese Aufteilung der Welt fanden manche Menschen überheblich und rassistisch, zumal in den afrikanischen, asiatischen und lateinamerikanischen Ländern, um deren Gunst - und Rohstoffe - Europa buhlt und die der EU-Außenbeauftragte laut seiner Jobbeschreibung umwerben, nicht beleidigen sollte.

Premier Sánchez wollte ihn wohl in Madrid loswerden

Sogar in Fettnäpfe, die weit abseits seiner Zuständigkeiten stehen, tritt Borrell bemerkenswert sicher. Zum Sieg der spanischen Frauen-Nationalmannschaft bei der Fußball-Weltmeisterschaft fiel ihm vor einigen Tagen nur das etwas schräge Lob ein, die Damen lernten jetzt endlich, so zu spielen wie die Herren, das sei doch erfreulich. Zu dem Skandal um den spanischen Verbandspräsidenten, der bei der Siegerehrung eine Spielerin gegen deren Willen geküsst hatte - kein Wort.

Borrells Lebenslauf passt eigentlich recht gut zu seinem derzeitigen Job. Er war Abgeordneter im Europaparlament und dessen Präsident, er hatte in Madrid führende Oppositions- und Regierungsämter inne, unter anderem war er Spaniens Außenminister. Allerdings gibt es Leute in Brüssel, die geahnt haben, dass ihnen der spanische Regierungschef Pedro Sánchez nicht unbedingt seinen besten Mann überließ, als er Borrell 2019 für den Posten des Außenbeauftragten vorschlug.

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Gesucht wurde damals gemäß der EU-Personalarithmetik ein Sozialdemokrat, da die Konservativen die Kommissionspräsidentin stellten, die Liberalen den Ratspräsidenten. Doch einigen Beobachtern fiel durchaus auf, mit wie wenig Respekt viele Parteifreunde in Madrid über "Pepe" Borrell redeten. Sánchez, so eine Interpretation, wollte Borrell wohl einfach loswerden.

Das bisher wohl folgenschwerste Versagen des Außenbeauftragten ist seine Unfähigkeit, das im März von der EU abgegebene Versprechen umzusetzen, der Ukraine binnen eines Jahres eine Million schwere Artilleriegranaten zu schicken. Kiew braucht diese Munition dringend. Borrell hat allerdings einen so komplizierten Finanzierungs- und Lieferplan entworfen, dass bisher nur ein Bruchteil der Granaten auch angekommen ist. Dass er zwei ihm unterstellte EU-Büros prominent eingebunden hat - die European Peace Facility und die European Defence Agency -, ist nach Angaben von Diplomaten ein wesentlicher Hinderungsgrund.

Verteidigungsexperten gehen davon aus, dass die EU bis März 2024 der Ukraine allenfalls ein Viertel bis die Hälfte der zugesagten Geschosse wird liefern können. Es sei halt nicht dienlich, wenn Regierungen ihr "abgehalftertes" Personal nach Brüssel entsorgten, stöhnt eine Person in Brüssel, die mit Borrell zu tun hat.

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