Erster Weltkrieg und Schuldfrage:Die Hundert-Männer-Geschichte

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Deutschland ist hauptverantwortlich für den Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Ist das wirklich eine Ansicht von gestern? Nein. Eine Kritik am neuen Revisionismus.

Von Heinrich August Winkler

"Im Auslegen seid frisch und munter! Legt ihr's nicht aus, so legt was unter!" So heißt es in Goethes "Zahmen Xenien". An dieses Motto hält sich auch der Bonner Historiker Dominik Geppert in seinem SZ-Beitrag vom 25. August zur jüngsten Debatte um die Verantwortung für den Ausbruch des Ersten Weltkriegs.

Über mich ist da zu lesen: "Heute gehe es um 1914, insinuierte jüngst Heinrich August Winkler in der Zeit, morgen um 1939." Geppert unterstellt mir damit die Meinung, wer Deutschland von der Hauptschuld am Ersten Weltkrieg freispreche, werde das früher oder später auch im Hinblick auf den Zweiten Weltkrieg tun.

Dergleichen habe ich nirgendwo geschrieben oder angedeutet.

Meine Kritik an der neueren revisionistischen Literatur über 1914 ist eine andere. Ich halte Autoren wie Christopher Clark ("Die Schlafwandler") und Herfried Münkler ("Der Große Krieg") die folgenreiche Ausblendung der nationalistischen deutschen Kriegspartei vor ( hier mehr dazu), die vorwiegend aus innenpolitischen Gründen auf Krieg setzte, nämlich um das vorparlamentarische System des Kaiserreichs zu bewahren, den unaufhaltsam erscheinenden Aufstieg der Sozialdemokraten aufzuhalten und so eine "Gesundung" der inneren Verhältnisse zu bewirken.

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An das Wirken der radikalen und meist auch antisemitischen wilhelminischen Rechten vor und nach 1914 knüpften nach der Niederlage Deutschlands Hitlers Nationalsozialisten an. Deren Erfolg rückt ohne diese Vorgeschichte in den Bereich des Unerklärbaren.

Zu dieser Verrätselung und Verinselung des Nationalsozialismus und damit zur Wiederbelebung der Legende vom "Betriebsunfall" Hitler trägt bei, wer meint, die Kriegspartei des kaiserlichen Deutschland mit dem Alldeutschen Verband und den konservativen Parteien an der Spitze ignorieren zu können.

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Hierauf geht Dominik Geppert freilich nicht ein. Er begnügt sich mit einer Neuauflage des berühmten Diktums des preußischen Historikers Heinrich von Treitschke "Männer machen die Geschichte".

Bei Geppert heißt das: "Um zu verstehen, wieso der Große Krieg im Sommer 1914 ausbrach und nicht schon 1911 oder erst 1916 (oder gar nicht), muss man das Denken und Handeln von knapp hundert Politikern, Diplomaten und gekrönten Häuptern an den Schalthebeln der Macht untersuchen."

Die Frage nach Strukturen und Mentalitäten stört da nur. Sie würde im internationalen Vergleich (und auf den kommt es an) zu einem irritierenden Befund führen: Der Militarismus war ein gesamteuropäisches Phänomen, aber nirgendwo prägte er die Gesellschaft so stark wie im wilhelminischen Deutschland ( hier mehr zur Vorgeschichte des Krieges ).

Kriegsparteien gab es überall, aber in keinem anderen europäischen Land war ihr sozialer Rückhalt und ihr politischer Einfluss so breit wie im Deutschen Reich.

Geppert verweist zu Recht auf die vielen Auslöser des Ersten Weltkriegs. Aber die russische und die französische Kriegspartei (und, soweit es eine britische gab, auch diese) wären nicht zum Zuge gekommen, wenn nicht Österreich-Ungarn auf das Attentat von Sarajevo ( hier mehr dazu) erst mit einem Ultimatum und dann der Kriegserklärung an Serbien geantwortet hätte.

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Im Jahr 2002 sprach auch noch Sönke Neitzel von einer solchen "Hauptverantwortung" Berlins und Wiens, die "gleichermaßen auf Krieg drängten". Anfang Januar dieses Jahres 2014 aber verfasste Neitzel zusammen mit seinen Kollegen Dominik Geppert und Thomas Weber sowie der Publizistin Cora Stephan das Manifest "Der Beginn vieler Schrecken" (erschienen in der Welt).

Darin heißt es: "Die Schuldfrage, in deutscher Selbstbezogenheit lange Zeit der zentrale Begriff, ob als Skandalon oder als Selbstbezichtigung, spielt (...) keine entscheidende Rolle mehr." Dass aus dem "Ursprungskonflikt ein globales Desaster" wurde, lasten die Autoren Großbritannien an, während sie der deutschen Führung rein defensive Ziele bescheinigen.

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In seinem Beitrag für die SZ erwähnt Geppert nicht, was er mit anderen vor gut einem halben Jahr öffentlich vertreten hat. Auch auf seine dort geforderte Absage an eine weitere europäische Einbindung Deutschlands kommt er nicht mehr zurück.

Aber er verwahrt sich dagegen, dass ich in diesem Zusammenhang von "nationalen, ja nationalistischen Tönen" spreche. Da ist es wohl erlaubt, nochmals Goethe, und diesmal Mephisto, zu zitieren: "Man darf das nicht vor keuschen Ohren nennen, was keusche Herzen nicht entbehren können".

Von dem Historiker Heinrich August Winkler erscheint im September der dritte Band seiner "Geschichte des Westens".

© SZ vom 29.08.2014 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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