Erster Weltkrieg:Deutsche Schuld, deutsche Demütigung

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Eine Gruppe deutscher Soldaten, die während der großen Offensive im April 1918 an der Westfront in Frankreich in britische Kriegsgefangenschaft gerieten. (Foto: dpa/dpaweb)

Auf dem Weg nach Versailles: Jörg Friedrich dürfte der letzte Historiker sein, der noch nach Herzenslust aufrechnet. In seinem Epos "14/18" reaktiviert er jene Emotionen, die die Schuldfrage am Leben erhalten.

Von Gustav Seibt

Im Gedenkkalender zu 1914 ist die Juli-Krise vorbei. Wer im Netz einen der vielen weiterlaufenden Kalender zum 100-Jahr-Erinnern verfolgt, beispielsweise den Twitter-Account "1914Tweets", ist längst mit den deutschen Truppen in Belgien und an der Marne. Inzwischen erscheinen erste wissenschaftliche Bilanzen zur Literatur über den Kriegsausbruch.

Auf der Internet-Seite "H Soz u Kult" ist seit dem 30. Juli eine ausgezeichnete Sammelrezension von Andreas Rose abrufbar. Ebenso lesenswert ist ein Beitrag von Friedrich Kießling in der August-Nummer der Zeitschrift Mittelweg 36 unter dem Titel "Vergesst die Schulddebatte!".

Dramatische Unfähigkeit, sich in die Lage der anderen zu versetzen

Rose wie Kießling müssen sich mit dem vor allem in Zeitungsbeiträgen verbreiteten Vorwurf an Christopher Clark auseinandersetzen, dieser relativiere in seinem Buch "Die Schlafwandler" die "Hauptschuld" des Deutschen Reichs am Kriegsausbruch. Sie ist also doch zurückgekehrt, die alte Schuldfrage. Dabei hatte Clark den deutschen Beitrag zur Krise nicht kleingeredet, auch wenn sein Ansatz, die Krise als polyzentrischen, interaktiven Vorgang zu entwickeln, die Schuldfrage methodisch hinter sich lässt.

Offenbar fällt es schwer, sich "Schuld" oder "Verantwortung" anders als quantitativ vorzustellen. Dann wird sie zum Kuchen, der umso schneller aufgezehrt wird, je mehr davon ein Stück bekommen. Doch erkennt schon eine einfache moralische Überlegung, dass ein Verbrechen nicht deshalb kleiner wird, weil fünf Personen gleichzeitig versuchen es zu begehen. Und Schuld setzt jedenfalls in politischen Zusammenhängen volle Übersicht zu Umständen und Folgen von Entscheidungen voraus.

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Ein Hauptgewinn der Forschungen der letzten Jahre, die nun bilanziert werden, besteht im Nachweis der unterschiedlichen Wahrnehmungen der Krise bei den Akteuren. Allen gemeinsam war eine dramatische Unfähigkeit, sich in die Lage der anderen Parteien hineinzuversetzen und die Welt mit deren Augen zu sehen. Wir kennen dieses Problem heute im Streit ums "Russlandverstehertum".

In den wissenschaftlichen Bilanzen kommt eins der bei deutschen Lesern erfolgreichsten Bücher zum Weltkrieg bisher nicht vor: Jörg Friedrichs monumentaler Schmöker "14/18" mit dem richtunggebenden Untertitel "Der Weg nach Versailles". Zwar wird der Versailler Friede nur summarisch auf wenigen Seiten abgehandelt, doch bleibt der Moment der moralischen Demütigung Deutschlands der Fluchtpunkt von Friedrichs Erzählung.

Damit reaktiviert sein streckenweise blendend geschriebenes Epos jene Emotionen, die die Schuldfrage zum Leidwesen einiger Historiker noch über die pädagogischen Absichten heutiger selbstkritischer Historie hinaus hartnäckig am Leben erhalten. Anders gesagt: Friedrich dürfte der letzte Historiker sein, der nach alter Weise und nach Herzenslust aufrechnet. Damit reinszeniert er die moralischen Kämpfe, der die blutigen Weltkriegsschlachten von Anfang an begleitete.

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Man muss erläutern, wie Friedrich, der seit seinem Luftkriegsbuch zum Zweiten Weltkrieg ("Der Brand") als politisch inkorrekter Debattenstifter agiert, erzählt. Friedrich hat die Gabe leiblicher Vergegenwärtigung, er kann Situationen mit Mitteln, die er klassischer Thriller-Literatur abgeschaut hat, fühlbar machen.

Am glänzendsten gelingt ihm das bei Randthemen wie der deutschen Sabotage in amerikanischen Rüstungsfirmen, die er mit Eric-Ambler-Kühle darstellt, oder beim Bericht von der angeblichen "spanischen" Grippe, die 1917 von amerikanischen Soldaten nach Europa eingeschleppt wurde und mehr Tote kostete als der ganze Weltkrieg zusammen. Friedrichs wenige Seiten dazu sind meisterlich; hier klingt er nach dem Camus der "Pest".

Im Übrigen liebt Friedrich den Wechsel der Perspektiven: Mal gibt er den allwissenden Erzähler, der an wichtigen Wendepunkten weiß, wie man alles hätte besser machen können. Noch am 25. Juli 1914 hätte Deutschland Österreich-Ungarn zurückpfeifen können, und alles wäre gut gewesen.

Oder Deutschland hätte im Frühjahr 1918 auf seine letzte Offensive verzichten, Elsass-Lothringen und Belgien ohne weiter Umstände zurückgeben sollen, um seinen großen Sieg im Osten zu verwerten. Friedrich agiert in solchen Momenten wie ein machtvoller Schicksalsgott, der seinen Lesern das schönste Geschichtsgefühl schenkt, die Mitwisserschaft der Zeiten.

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An anderen Stellen greift er zum Mittel der "erlebten Rede", er kriecht in die Haut der Akteure. um ihre Standpunkte halb von innen zu reproduzieren; Standpunkte werden zu Charakterfragen. In Kombination mit dem allwissenden Erzählerstandpunkt erscheinen die Akteure dabei leicht als Dummköpfe oder als Heuchler.

Friedrichs stilistisch hartgekochte Kühle ist nur gespielt. Mit der Verbindung von Übersicht und Personenzeichnung reinszeniert er die moralische Propaganda-Schlacht des Weltkriegs; zuweilen wird auch für den heutigen Leser fühlbar, wie empörend es sich für Deutsche angefühlt haben mag, dass ihnen in Belgien das Abhacken von Kinderhänden vorgeworfen wurde: War das nicht genau das Verbrechen gewesen, das dem belgischen Königshaus in seiner Kolonie Kongo vorgeworfen worden war?

Deutschland hatte in Belgien 6500 Zivilopfer auf dem Gewissen - Friedrich erinnert an die nahezu 800 000 Toten, die die alliierte Seeblockade in Deutschland verursacht haben soll: mehr Zivilopfer, als der Luftkrieg im Zweiten Weltkrieg kostete.

Amerika, das sich über die angekündigte Versenkung des Waffen transportierenden Passagierkreuzers Lusitania erregte, wurde schwerreich durch Rüstungsexporte an England und Frankreich - galt sein Kriegseintritt der Wahrung des Völkerrechts oder nicht doch eher der Rettung seiner Schuldner? Das sind alte Fragen, die die Deutschen schon in den zwanziger Jahren aufregten, nachdem sie, auch unter dem Druck einer nach dem Waffenstillstand fortgesetzten, somit eindeutig völkerrechtswidrigen Blockade, den Versailler Kriegsschuldparagrafen unterzeichnet hatten.

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Er ist also der wahre Fluchtpunkt von Friedrichs auf moralistische Weise antimoralistischer Erzählung. Wer sich ihr aussetzt, lernt verstehen, warum die Kriegsschuldfrage zum Leidwesen der internationalen Forschung immer noch lebt: Vermutlich war die moralische Demütigung bei Kriegsende schlimmer als alle Reparationen.

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Friedrich schließt mit der Überlegung, dass Deutschland 1918 durch den Wegfall der russischen Bedrohung strategisch besser dastand als 1914. Die Gefahr der Einkreisung war erst einmal gebannt. Das aber hatte auch das erschöpfte, panische Frankreich verstanden.

© SZ vom 08.09.2014 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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