Schuldkontroverse um Ersten Weltkrieg:Nationale Nabelschau

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Deutsche Soldaten, ihnen voran ein Offizier mit gezücktem Säbel, stürmen 1914 während der Marneschlacht an der Westfront auf ein feindliches Lager zu. Die Aufnahme ist möglicherweise gestellt worden. (Foto: Scherl/SZ Photo)

Die Debatte um die Schuld am Ersten Weltkrieg ist ein Rückfall. Ohne das kaiserliche Deutschland in seiner Verantwortung zu entlasten, kann man feststellen: 1914 hatte es die Welt mit einer Globalisierungskrise zu tun - wie heute auch.

Von Friedrich Kießling

Da sage noch jemand, Geschichte wiederhole sich nicht. Als sich im Jahr 1964 der Ausbruch des Ersten Weltkriegs zum 50. Mal jährte, erreichte die Fischer-Kontroverse um die Haupt- oder Alleinschuld des Deutschen Reichs ihren öffentlichen Höhepunkt.

"Ich muss mal wieder das eigene Nest beschmutzen", schrieb Rudolf Augstein anlässlich des Jahrestages im Spiegel. Als "Duell der Historiker" präsentierte die Hamburger Zeit eine öffentliche Diskussion, an der neben Fritz Fischer unter anderem seine prominenten Kritiker Erwin Hölzle und Hans Herzfeld teilnahmen.

Schulddebatte wird zur Erkenntnisblockade

Die Namen sind heute andere, die Artikel erscheinen fast austauschbar. "Nun schlittern sie wieder" war in Anspielung auf ein berühmtes Diktum von Lloyd George aus der Zwischenkriegszeit Anfang 2014 in der Zeit zu lesen. Die deutschen Historiker seien "besessen von der deutschen Kriegsschuld", hieß es in der Welt über eine Diskussion mit Christopher Clark in Potsdam.

Andere deutsche Historiker müssen sich inzwischen Revisionismus, Nationalismus und sogar Nähe zu den "Ideen von 1914" vorwerfen lassen. Längst hat auch die Debatte über die Debatte eingesetzt. Die Ursachen werden in weiter bestehenden nationalen Minderwertigkeitskomplexen der Deutschen, in Generationskonflikten zwischen Historikern oder in alten und neueren methodischen Auseinandersetzungen gesucht.

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Eigentlich ließe sich der neuentbrannte Streit, der auch in der Süddeutschen Zeitung geführt wird, ganz entspannt verfolgen, spricht er doch für die lange nicht für möglich gehaltene Lebendigkeit eines prägenden Ereignisses im deutschen Geschichtsbewusstsein. Der Erste Weltkrieg hat uns offensichtlich auch heute noch etwas zu sagen. Das war in den späten Siebziger- oder in den Achtzigerjahren so nicht abzusehen. Doch je länger die Debatte anhält und in immer neue Runden geht, desto stärker wird das Unbehagen.

Das betrifft nicht nur den Stil der Auseinandersetzung, der inzwischen zu eskalieren droht, oder manche tatsächlich schwer zu ertragende Beiträge in Internetforen. Es betrifft vor allem die Dominanz einer Diskussion, die zwar so oder ganz ähnlich vor fünfzig - oder gar vor neunzig Jahren - geführt worden ist, die aber in der Forschung seit Jahrzehnten kaum noch eine Rolle gespielt hat.

Die große Leistung der vieldiskutierten aktuellen Arbeiten von Christopher Clark, aber auch von Herfried Münkler oder Jörn Leonhard (es wären weitere zu nennen) liegt gerade nicht darin, neue Erkenntnisse zur Frage nach der deutschen Schuld geliefert zu haben. Alle in den vergangenen Wochen und Monaten diskutierten Positionen in dieser Frage wären längst anderswo nachzulesen gewesen - wenn man es denn gewollt hätte.

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Die Leistung der genannten Autoren besteht vielmehr darin, die Vielgestaltigkeit der neueren Forschung zur Vorgeschichte des Krieges in ihre großen Synthesen eingebracht und sie damit einer breiteren Öffentlichkeit vorgestellt zu haben. Die wieder aufgeflammte Schulddebatte überdeckt das. Sie verhindert, dass Fragen und Ergebnisse der jüngeren Forschung zu den Kriegsursachen in der Öffentlichkeit wahrgenommen werden, die es ebenso oder noch viel mehr verdient hätten. Die Schulddebatte wird so zur Erkenntnisblockade.

Modernität des späten Kaiserreiches

Das beginnt mit unserem Bild der Zeit vor 1914. Betrachten wir diese vor allem unter dem Aspekt der deutschen Kriegsschuld, so sehen wir vor allem Pickelhauben, Obrigkeitsstaat und militärische Dominanz. Eine Herausarbeitung dieser Aspekte des Kaiserreichs war in den Fünfziger- und Sechzigerjahren des 20. Jahrhunderts sicher berechtigt, ja überfällig. Es ging in Deutschland darum, sich von autoritären Strukturen zu lösen und Klarheit über die eigene Geschichte zu erlangen.

Heute fällt bei der Fortschreibung dieser Sicht vor allem die inzwischen von der Forschung herausgearbeitete Modernität des späten Kaiserreiches unter den Tisch. Das Kaiserreich lässt sich eben nicht nur als atavistischer Obrigkeitsstaat begreifen. Es war ebenso der Beginn einer modernen Wissensgesellschaft, einer Kommunikationsgesellschaft, ja einer Gesellschaft, die durchaus pluralistisch über sich selbst in der Öffentlichkeit diskutierte.

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Über den Charakter und die Wahrscheinlichkeit eines Krieges, über das Problem des Militarismus oder die Defizite des eigenen politischen Systems wurde im Kaiserreich bereits vor 1914 vielstimmig gestritten. In gewissem Sinne gingen die Deutschen damit 1914 sehenden Auges und im Bewusstsein der möglichen Folgen in den Krieg.

Sehen wir das Kaiserreich vor allem als militaristischen Obrigkeitsstaat, erklärt sich der Krieg gewissermaßen von selbst. Der Kriegsentschluss hat dann mit uns praktisch nichts mehr zu tun - er war das Werk einer anderen Welt. Begreifen wir aber, dass es sich um eine in vielen Bereichen moderne, uns sehr viel vertrautere Gesellschaft handelte, rückt 1914 der Gegenwart deutlich näher. Dass in einer solchen Welt ein solcher Krieg gemacht werden konnte, kann und sollte auch heute noch beunruhigen. Es kann Erkenntnisprozesse auslösen, die auch uns betreffen.

Ähnliches gilt für systematische Aspekte in den internationalen Beziehungen, mit denen sich die Historiker in den vergangenen Jahrzehnten vielfach beschäftigt haben. Die Frage nach der Kriegsschuld eines Staates in den Mittelpunkt zu rücken, heißt Strukturen und Probleme des internationalen Systems zu vernachlässigen, die mit zum Krieg beigetragen haben.

Das reicht von der hochaktuellen Frage, wie aufstrebende Mächte in eine bestehende internationale Ordnung eingebunden werden können, über Fragen der Abschreckung oder der gegenseitigen Glaubwürdigkeit bis zu solchen von gelungenem oder misslungenem Krisenmanagement.

Die Situation auf dem Balkan stand ja im Sommer 1914 nicht zum ersten Mal auf der internationalen Tagesordnung ( hier mehr dazu). Zuvor war es immer wieder gelungen, die von dort ausgehenden Gefahren zu entschärfen. Nach den Morden von Sarajevo erwiesen sich die scheinbar erprobten Mittel als unwirksam, eine Stabilisierung des bis dahin durchaus erfolgreichen Krisenmanagements war versäumt worden. Nicht wenige Akteure und Beobachter hatten sich in trügerischer Sicherheit gewiegt.

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Insgesamt handelte es sich auch vor 1914 um ein internationales System, das in Fluss geraten war. Für die Zeitgenossen war es entsprechend von hoher Unsicherheit und Unübersichtlichkeit geprägt. Bis dahin verlässliche Regeln schienen nicht mehr zu gelten, neue hatten sich bisher nicht etabliert. Nicht nur das Setzen auf militärische Lösungen und Kriegsbereitschaft waren die Folge, sondern auch Angst und Befürchtungen. Dies löste einen Handlungsdruck aus, der sich 1914 entlud.

Nicht wieder mit der simplen Schulfrage anfangen

Nicht zuletzt schreibt die neu-alte Schulddebatte eine nationale Sicht fort. Das ist wahrscheinlich mit das Verstörendste an der aktuellen Diskussion. Die große Leistung der jüngeren Forschung ist es doch, die lange vorherrschenden nationalen Perspektiven hinter sich gelassen zu haben. Christopher Clark, Jörn Leonhard und andere bauen in ihren aktuellen Arbeiten auf dieser breiten, viel internationaler gewordenen Forschung auf.

Die jüngste Schulddebatte kann hier nur als ein Rückfall betrachtet werden. Sie geschieht als nationale Nabelschau. Dieses Defizit wiegt umso schwerer, als es sich bei der Zeit vor 1914 um eine in vielen Bereichen längst globale Welt handelte. Vieles spricht dafür, dass der Erste Weltkrieg auch Folge einer ersten modernen Globalisierungskrise war. Die an der nationalen Erzählung ausgerichtete Schulddebatte scheint hier endgültig verfehlt zu sein.

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Dies alles bedeutet selbstverständlich nicht, die damalige deutsche Reichsleitung von ihrer Verantwortung zu entlasten. Das tut im Übrigen auch niemand. Die Führung in Berlin betrieb in der Julikrise eine verfehlte Hochrisikopolitik ( hier mehr dazu), die im Wissen um die möglichen katastrophalen Folgen des eigenen Handelns den Weltkrieg riskierte.

Nur: Damit allein ist der Krieg noch lange nicht erklärt. Andere Fragen, die die jüngere Kriegsursachenforschung beschäftigt haben, sind inzwischen viel spannender und haben mit unserer heutigen Welt weit mehr zu tun. Wer den Krieg von 1914 verstehen und das Gedenken fruchtbar machen möchte, sollte nicht immer wieder neu mit der simplen Schuldfrage anfangen.

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© SZ vom 03.09.2014 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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