Türkei:Buhrufe gegen Regierung zum Jahrestag der Erdbeben

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In der südtürkischen Provinz Hatay erinnern Anwohner unter Protest um 4.17 Uhr (Ortszeit) an die Opfer des Erdbebens vor einem Jahr. (Foto: UMIT BEKTAS/REUTERS)

Vor einem Jahr erschütterten schwere Erdbeben die Türkei und das Nachbarland Syrien, Zehntausende Menschen kamen ums Leben. Bei den Gedenkfeiern müssen sich Politiker deshalb Kritik anhören.

Ein Jahr nach dem verheerenden Erdbeben im Süden und Südosten der Türkei und in Nordsyrien haben viele Menschen der Zehntausenden Toten gedacht und dabei die Regierung lautstark kritisiert. In der am stärksten betroffenen südtürkischen Provinz Hatay erinnerten Anwohner um 4.17 Uhr (Ortszeit) an die Opfer - zu diesem Zeitpunkt hatte vor einem Jahr das erste schwere Beben die Region erschüttert.

Bei der Gedenkfeier in Antakya wurde die Regierung immer wieder ausgebuht. Gesundheitsminister Fahrettin Koca von der regierenden AKP hielt seine Rede begleitet von lauten Pfiffen. Auch Provinzbürgermeister Lütfü Savaş von der größten Oppositionspartei CHP wurde zum Rücktritt aufgefordert. Teilweise wurden die Regierungsverantwortlichen als "Mörder" bezeichnet, die zur Rechenschaft gezogen werden müssten.

Bewohner riefen im Chor: "Hört jemand unsere Stimmen?" Diesen Satz hatten vor einem Jahr auch Retter gerufen, als sie tagelang nach Verschütteten suchten. Heute steht er dafür, dass sich viele Überlebende ignoriert und ihrem Schicksal überlassen fühlen. Am Gedenktag entzündeten Menschen Kerzen auf den Ruinen der zerstörten Gebäude und warfen rote Nelken in den Fluss der Stadt. Trauernde aus dem ganzen Land reisten in die Region.

Ein Jahr nach den Erdbeben trauern viele Menschen in Antakya. (Foto: OZAN KOSE/AFP)

Am frühen Morgen des 6. Februar 2023 hatte ein Beben der Stärke 7,7 den Südosten der Türkei getroffen, ein weiteres Beben der Stärke 7,6 folgte am Nachmittag. Allein in der Türkei kamen nach Regierungsangaben mehr als 53 000 Menschen ums Leben. Genaue Angaben zu den Opfern aus dem vom Bürgerkrieg gezeichneten Nachbarland Syrien sind schwer zu ermitteln. Unbestätigten Informationen zufolge könnten dort mehr als 6000 Menschen gestorben sein.

Präsident Recep Tayyip Erdoğan und seine Regierung standen nach den Beben schwer in der Kritik, ihnen wurden unter anderem Fehler beim Krisenmanagement vorgeworfen. Zudem gerieten sogenannte Schwarzbauten in den Fokus, die illegal errichtet und dann später von der Regierung legalisiert worden waren. Dennoch wurde Erdoğan im Mai vergangenen Jahres nach 20 Jahren an der Macht als Präsident wiedergewählt. Ende März stehen Kommunalwahlen an. Erdoğan wird an diesem Dienstag in der ebenfalls vom Beben schwer getroffenen Provinz Kahramanmaraş erwartet.

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Er hatte nach den Beben versprochen, den schnellen Wiederaufbau in der Region voranzutreiben. Doch die Menschen leiden noch immer stark unter den Folgen der Erschütterungen. Sie klagen über fehlende Hilfen wie Lebensmittel- oder Kleiderspenden. In einem Containerdorf in Karaçay erzählten Bewohner, sie seien abhängig von der Unterstützung durch internationale Hilfsorganisationen. Auch die Wasserversorgung breche immer wieder ab, berichteten Menschen aus der Kleinstadt Kırıkhan.

In der Türkei sind Behördenangaben zufolge fast 700 000 Menschen in Containern untergebracht. Auch wenn die Regierung offiziell angibt, dass Zeltstädte aufgelöst worden seien, lebt noch eine unbekannte Anzahl von Menschen in Zelten. Jedes dritte Kind, das in der türkischen Erdbebenregion obdachlos geworden ist, lebt nach Angaben von Save the Children noch heute in einer Notunterkunft. Sowohl in der Türkei als auch in Syrien haben demnach viele Kinder mit Ängsten und psychischen Problemen zu kämpfen.

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