Erdbeben in der Türkei und Syrien:Zahl der Toten steigt auf mehr als 30 000

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Im türkischen Antakya weint eine Frau um einen Verwandten. Noch immer werden Tausende Menschen vermisst. (Foto: Bernat Armangue/dpa)

Die Vereinten Nationen gehen davon aus, dass es mehr als 50 000 werden. In den Gebieten steigt die Seuchengefahr. Die Bundesregierung will Erdbebenbetroffenen schneller Visa ermöglichen. In der Türkei ist ein Baby nach 140 Stunden gerettet worden.

Nach der Erdbebenkatastrophe im syrisch-türkischen Grenzgebiet könnte die Zahl der Todesopfer nach Schätzungen der Vereinten Nationen auf mehr als 50 000 steigen. Der UN-Nothilfekoordinator Martin Griffiths sagte dem Sender Sky News am Sonntag im türkischen Erdbebengebiet Kahramanmaras, Schätzungen seien schwierig, aber die Zahl der Todesopfer könnte sich "verdoppeln oder mehr". Das sei "erschreckend". Derzeit liegt die Zahl bei mehr als 30 000.

Knapp eine Woche nach den Beben wächst in den betroffenen Gebieten zudem die Gefahr von Krankheiten. "In den Regionen, wo Menschen keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser haben, drohen irgendwann Seuchen", sagte Thomas Geiner, erdbebenerfahrener Mediziner und Teil des Teams der Katastrophenhelfer vom Verein Navis. "Die Kunst der nächsten Tage wird es sein, Hilfe dorthin zu bringen, wo sie benötigt wird." Bei der Größe der Region sei es aber so gut wie unmöglich, überall die nötige Infrastruktur bereitzustellen.

Durch die vielen ungeborgenen Leichen könne Wasser verunreinigt werden. Vielerorts haben Leute zudem keinen Zugang zu irgendeiner Art von Toiletten. Auch dadurch könnten Keime in das Grundwasser gelangen. Krankenhäuser sind stark beschädigt.

Unbürokratische Visa für Betroffene

Vom Erdbeben betroffene Menschen sollen über ein unbürokratisches Visaverfahren die Möglichkeit bekommen, zeitweise bei Angehörigen in Deutschland unterzukommen. Das teilten das Auswärtige Amt und das Bundesinnenministerium am Samstag in Berlin mit. "Als Bundesregierung wollen wir helfen, dass Familien in Deutschland Angehörige, die vom Erdbeben betroffen sind, vorübergehend bei sich aufnehmen können, wenn sie kein Dach mehr über dem Kopf haben oder medizinische Behandlung brauchen", sagte Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne).

Das Auswärtige Amt hat ihren Angaben zufolge gemeinsam mit dem Bundesinnenministerium eine Task Force gebildet. Diese nehme noch am Wochenende ihre Arbeit auf. "Ziel ist es, das Visaverfahren für diese Fälle so unbürokratisch wie möglich zu machen." Das Auswärtige Amt habe schon jetzt sein Personal an den Auslandsvertretungen verstärkt und Kapazitäten an den Visa-Annahmezentren in der Türkei umgeschichtet.

Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) schrieb auf Twitter: "Es geht um Hilfe in der Not. Wir wollen ermöglichen, dass türkische oder syrische Familien in Deutschland enge Verwandte aus der Katastrophenregion unbürokratisch zu sich holen können." Dies solle mit regulären Visa geschehen, die schnell erteilt würden und drei Monate gültig sein sollten.

Außenministerin Baerbock sagte: "In der Trauer und Bestürzung über die vielen tausend Toten nach dem Erdbeben ist ein Hoffnungsschimmer für mich das riesige Engagement Hunderttausender Menschen in unserem Land, die nicht nur Anteil nehmen, sondern anpacken und Wege finden zu helfen, etwa mit Spenden." Viele Menschen hier hätten Verwandte in der Türkei, die sie bei sich aufnehmen wollten und für die sie bereit seien zu bürgen.

Nach Informationen der Nachrichtenagentur dpa soll die beschleunigte und prioritäre Visumvergabe Menschen zugute kommen, die von der Katastrophe individuell besonders betroffen sind - etwa durch tatsächliche oder drohende Obdachlosigkeit oder durch behandlungsbedürftige Verletzungen. Die Regelung richtet sich an Erdbebengeschädigte, die in Deutschland bei Familienangehörigen ersten oder zweiten Grades mit deutscher Staatsbürgerschaft oder einem dauerhaften Aufenthaltsrecht Zuflucht suchen wollen.

Das aufnehmende Familienmitglied muss zudem eine Erklärung abgeben, in der es sich verpflichtet, für den Lebensunterhalt und die spätere Ausreise des Aufgenommenen aufzukommen. Alle Anforderungen eines regulären Visumverfahrens werden allerdings nicht aufgehoben. So muss der Antragsteller zum Beispiel in der Regel einen gültigen Reisepass vorweisen können.

Baby nach Tagen lebend aus Trümmern gerettet

Sechs Tage nach dem verheerenden Erdbeben wurde ein sieben Monate altes Baby in der Südosttürkei aus den Trümmern gerettet. Die Helfer konnten den Jungen in der Provinz Hatay nach 140 Stunden lebend aus den Trümmern bergen, wie der Staatssender TRT berichtete. Sie hätten das Kind weinen gehört und seien so auf es aufmerksam geworden. Ein 35-Jähriger wurde nach Angaben des Senders in derselben Provinz am Sonntagmorgen nach 149 Stunden unter Trümmern gerettet.

Zuvor ist in der Provinz Hatay ein zwei Monate altes Baby lebend aus Trümmern gerettet worden. Der Säugling in der Mittelmeer-Gemeinde İskenderun sei 128 Stunden lang unter Schutt begraben gewesen, bevor er herausgezogen und in ein Krankenhaus gebracht wurde, berichtete die staatliche türkische Nachrichtenagentur Anadolu.

In der türkischen Stadt Kahramanmaras wurde ein neun Jahre alter Junge nach rund 120 Stunden in einem eingestürzten Haus gerettet, wie die israelische Armee mitteilte. Den Angaben zufolge ist er nach seinem Vater und seiner 14-jährigen Schwester das dritte Mitglied einer Familie, das von dem israelischen Team geborgen wurde. Seine Mutter sei dagegen tot aufgefunden worden.

In der Stadt Adiyaman wurde ein Ehepaar nach 129 Stunden befreit. Es muss aber wahrscheinlich den Tod seiner drei Töchter beklagen, wie der staatliche türkische Fernsehsender TRT World berichtete. In sozialen Medien und in Fernsehberichten baten Menschen weiterhin um schnelle Hilfe und gaben an, noch Stimmen unter Trümmern gehört zu haben.

Haftbefehle wegen möglicher Baumängel erlassen

Derartige Wundermeldungen werden immer seltener, die Überlebenschancen sind mittlerweile verschwindend gering: ohne Wasser und in eisiger Kälte. Rettungskräfte bergen stattdessen Hunderte weitere Leichen.

Bislang sind im syrisch-türkischen Grenzgebiet mehr als 30 000 Menschen ums Leben gekommen. Alleine in der Türkei liege die Zahl bei 29 605, berichtete die staatliche Nachrichtenagentur Anadolu am Sonntag unter Berufung auf die Katastrophenschutzbehörde Afad. Aus Syrien wurden zuletzt 3575 Tote gemeldet.

Derweil wurden Ermittlungen in der Türkei wegen möglicher Baumängel bei eingestürzten Gebäuden bekannt. Der Staat will hart gegen mögliche Baumängel im Erdbebengebiet vorgehen. Bislang seien 131 Verdächtige ausgemacht worden, die für den Einsturz Zehntausender Gebäude verantwortlich sein könnten, sagte Vizepräsident Fuat Oktay am Sonntag. "Gegen 113 von ihnen wurden Haftbefehle erlassen." Die Türkei werde alle Umstände auch strafrechtlich aufklären. Das Justizministerium habe in den zehn betroffenen Provinzen Untersuchungsbüros eingerichtet.

Deutsch-österreichische Rettungsteams arbeiten unter Schutz des türkischen Militärs

Aufgrund der zunehmend verzweifelten Situation soll es in der Türkei auch zu Tumulten gekommen sein, weswegen mehrere Hilfsorganisationen ihren Einsatz zeitweise unterbrachen. Von einer schwierigen Sicherheitslage für die Rettungskräfte sprachen am Samstag das Technische Hilfswerk (THW), die Hilfsorganisation I.S.A.R Germany und das österreichische Bundesheer. Letzteres hat inzwischen die Arbeiten wieder aufgenommen, nun mit türkischem Militärschutz.

Der österreichische Oberstleutnant Pierre Kugelweis hatte zuvor mitgeteilt, die Suche nach Überlebenden sei wegen Sicherheitsrisiken unterbrochen worden. "Es gibt zunehmend Aggressionen zwischen Gruppierungen in der Türkei. Es sollen Schüsse gefallen sein", sagte er. I.S.A.R-Einsatzleiter Steven Bayer sagte: "Es ist festzustellen, dass die Trauer langsam der Wut weicht." Tamara Schwarz, Sprecherin der THW-Zentrale in Bonn, sprach von "tumultartigen Szenen". Der Schutz der Ehrenamtlichen stehe jetzt im Vordergrund. Die Teams blieben aber weiter vor Ort. THW und I.S.A.R teilten weiter mit: "Grund dafür scheinen unter anderem die Verknappung von Lebensmitteln und die schwierige Wasserversorgung im Erdbebengebiet."

UN: Schwerste Katastrophe in der Region seit 100 Jahren

Am Montagmorgen hatte ein Beben der Stärke 7,7 das Grenzgebiet erschüttert, gefolgt von einem weiteren Beben der Stärke 7,6 am Mittag. Seither gab es bis Samstagmorgen 1891 Nachbeben in der Region, wie die türkische Katastrophenschutzbehörde Afad mitteilte.

UN-Nothilfekoordinator Griffiths bezeichnete das Erdbeben als schwerste Katastrophe in dieser Region seit 100 Jahren. Bei einer Pressekonferenz in der türkischen Provinz Kahramanmaras am Samstag lobte Griffiths die Reaktion der Türkei auf die Katastrophe als außergewöhnlich. Noch sei unklar, ob die Hilfe für Syrien sowohl die von der Regierung als auch die von ihren Gegnern gehaltenen Gebiete erreiche.

Auch Syrien braucht dringend Hilfe

In der syrischen Stadt Aleppo fanden die Suchteams zuletzt nach Informationen der dpa keine Überlebenden mehr. Aus dem Gebiet dringen nach wie vor nur spärlich Informationen. Nach Einschätzung der Weltgesundheitsorganisation (WHO) muss die Hilfe für Syrien dringend ausgeweitet werden. "Wir müssen mit größerer Dringlichkeit und in größerem Umfang handeln und uns besser organisieren", sagte Richard Brennan, der WHO-Nothilfedirektor für die Region Östliches Mittelmeer in Aleppo.

Die Toten- und Verletztenzahlen seien immens, was aber oft vernachlässigt werde, seien die vielen Obdachlosen. Allein in Aleppo im von der Regierung kontrollierten Teil Nordwestsyriens haben nach ersten Schätzungen rund 200 000 Menschen das Dach über dem Kopf verloren.

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Saudi-Arabien hat Aktivisten zufolge als erstes Land offizielle Hilfen in ein von den Erbeben schwer getroffenes Rebellen-Gebiet Syriens geschickt. Das saudische Staatsfernsehen zeigte am Samstag, wie Lastwagen mit insgesamt rund 100 Tonnen Hilfsgütern von der Türkei nach "Nordsyrien" fuhren.

Zu Beginn des Krieges hat Saudi-Arabien die syrische Opposition stark unterstützt. Inzwischen haben sie ihre Hilfe aber stark zurückgefahren. Nach Angaben von Aktivisten ging die Hilfe in die besonders betroffene und von militant-islamistischen Milizen kontrollierte Kleinstadt Dschindiris. Auch ein auf die Suche nach Verschütteten spezialisiertes saudisches Team sei zusammen mit den Hilfstransporten angekommen, hieß es von der Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte.

Die in den Rebellen-Gebieten aktive Rettungsorganisation Weißhelme hatte zuvor mitgeteilt, bislang nur privat organisierte Verstärkung aus Ägypten erhalten zu haben, die bei der Suche nach Verschütteten und der medizinischen Versorgung helfen. Auch die syrische Regierung bekommt Hilfe aus dem Ausland: etwa aus den Vereinigten Arabischen Emiraten (VAE), Iran, Indien und China.

Wie für die Opfer des Erdbebens spenden?

Hier eine Auswahl an Organisationen, die vom Deutschen Zentralinstitut für soziale Fragen (DZI) als seriös eingestuft werden, die komplette Liste findet man auf der Internetseite des DZI :

Ärzte ohne Grenzen e. V. - Médecins Sans Frontières (MSF), Deutsche Sektion, www.aerzte-ohne-grenzen.de , Bank für Sozialwirtschaft, Iban: DE72 3702 0500 0009 7097 00

Aktion Deutschland Hilft e. V., www.aktion-deutschland-hilft.de , Bank für Sozialwirtschaft, Iban: DE62 3702 0500 0000 1020 30, Stichwort: Erdbeben Türkei und Syrien

Deutsches Rotes Kreuz e. V, www.drk.de, Bank für Sozialwirtschaft, Iban: DE63 3702 0500 0005 0233 07, Stichwort: Nothilfe Erdbeben Türkei und Syrien

UNO-Flüchtlingshilfe e. V., www.uno-fluechtlingshilfe.de , Sparkasse Köln-Bonn, Iban: DE78 3705 0198 0020 0088 50, Stichwort: Erdbeben

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