Elke Schilling sagt: "Das Thema Einsamkeit läuft mir seit 15 Jahren hinterher." Die Gründerin des Berliner Projekts "Silbernetz" ist 75 Jahre alt und seit zehn Jahren Rentnerin. Davor war sie freiberuflich tätig und arbeitete allein. Das kann einsam machen, auch in jungen Jahren. "Ich weiß, wovon ich rede", sagt sie.
Die energiegeladene Rentnerin wurde ehrenamtliche Seniorenvertreterin im Berliner Stadtbezirk Mitte und war plötzlich Sprachrohr für 60 000 ältere Menschen. Die Statistikerin und Mathematikerin schätzt, dass sich "etwa 30 Prozent dieser alten Menschen mindestens gelegentlich mehr oder weniger einsam" fühlen. Als ihr alleinstehender Nachbar von der Bildfläche verschwand, alle Hilfsangebote ihrerseits ablehnte und ein paar Monate später tot in der Wohnung lag, wurde Schilling klar: Einsamkeit kann töten. Sie wollte etwas dagegen tun.
Unter dem Motto "Einfach mal reden" gründete sie ihr Hilfs- und Kontaktangebot "Silbernetz" für ältere Menschen, zunächst für Berlin. Aus einem Anruf kann eine Telefonfreundschaft werden. Einsame Menschen werden einmal pro Woche angerufen, und wenn möglich nach einiger Zeit ganz aus ihrer Isolation geholt, sodass sie an regelmäßigen Treffen im Viertel teilnehmen. In diesem Jahr können während der Weihnachtsfeiertage erstmals Menschen aus ganz Deutschland anrufen, unter der Nummer 0800 / 470 80 90. Einsame gibt es ja nicht nur in der Hauptstadt.
Ein Problem für die Forscher: Niemand gibt gerne zu, dass er sich alleine fühlt
Laut Untersuchungen fühlen sich zwischen neun und zwölf Prozent der Deutschen häufig oder ständig einsam, durch alle Altersgruppen. Besonders häufig leiden Menschen Mitte 30 und über 65 Jahren an Einsamkeit. Wer einsam ist, hat ein erhöhtes Risiko von Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Krebs, Depressionen und eines früheren Todes. In Japan, Dänemark und Australien wird Vereinsamung als ernst zu nehmendes Problem für die öffentliche Gesundheit wahrgenommen. Großbritannien machte 2018 Schlagzeilen, als es ein Einsamkeitsministerium einrichtete.
Auch die deutsche Politik hat das Thema erreicht. Im Koalitionsvertrag ist festgelegt, dass sich die Regierung mit Einsamkeit beschäftigen muss. Fachkongresse beschäftigen sich mit dem Thema. Mehrgenerationenhäuser werden gefördert. Hausbesuche für alte Leute geplant. Denn die Menschen werden immer älter, sind im Alter oft immobil, und wollen dennoch so lange wie möglich in ihren Wohnungen bleiben. Aber das familiäre Netz funktioniert nicht mehr so wie früher, der Partner stirbt, die Kinder wohnen weit weg - der Preis dafür kann dauerhaftes Alleinsein bedeuten.
Die Auswirkungen der Einsamkeit erforscht das Deutsche Zentrum für Altersfragen in Berlin. Oliver Huxhold wertet dafür repräsentative Befragungen aus, wie den deutschen Alterssurvey. Die Menschen direkt zu fragen, "Sind Sie einsam?", funktioniert allerdings nicht. "Das gibt ja niemand gerne zu", sagt Huxhold. Abgefragt werden unterschiedliche Symptome, die auf Einsamkeit hindeuten können. Fehlt Ihnen das Gefühl von Geborgenheit und Wärme? Haben Sie genug Menschen, bei denen Sie sich wohlfühlen?
Einsamkeit ist "ein bisschen wie Hunger"
Das eigentliche Problem ist damit noch nicht gelöst: Wie hole ich die Menschen aus der Isolation? Elke Schilling sagt: "Jemanden, der nicht will, kann ich auch nicht erreichen, das ist ganz klar." Ein gewisser Leidensdruck, ein gewisses Bedürfnis nach Nähe, nach sozialem Kontakt müsse sich in einem Menschen schon artikulieren, damit er nach dem Strohhalm greife, der ihm geboten werde.
"Ich glaube, man merkt ziemlich schnell selbst, ob man einsam ist", sagt Huxhold. "Das ist ein zutiefst menschliches Gefühl, das wir im Prinzip alle schon einmal erlebt haben. So ein bisschen wie Hunger." Doch manche trauen sich nicht, Kontakt aufzunehmen, oder wissen nicht mehr, wie das geht. Einsamkeit könne sich auch selbst verstärken, weiß Huxhold, und dazu führen, dass man sich noch mehr zurückziehe. Wenn das Selbstvertrauen fehle, die Kommunikationsfähigkeiten nicht mehr so ausgeprägt seien und die soziale Welt als feindselig wahrgenommen werde, dann wäre es aus seiner Sicht sogar Zeit für eine Therapie.
Die Organisation "Freunde alter Menschen" hat Erfahrung damit, Menschen aus der Isolation zu holen. Entstanden nach dem Vorbild der "Petits frères des Pauvres", einer Freiwilligenorganisation, die nach dem Zweiten Weltkrieg in Frankreich tätig war, gründeten die "Freunde" 1991 in Berlin erste Wohngemeinschaften älterer Menschen. Im Alter allein zu wohnen sei "so lange unkritisch, solange man noch einigermaßen mobil ist und sich soziale Kontakte suchen kann", meint Simone Sukstorf, die in Hamburg für die "Freunde alter Menschen" arbeitet. Doch wenn man nicht mehr raus kann, werde die Wohnung zur Falle. Wenn über Wochen der einzige Gesprächskontakt neben dem Fernseher der junge Mann sei, der Essen auf Rädern bringe, dann sei es Zeit, sich Hilfe zu holen, meint auch Schilling.
Wenn das Interesse der Freiwilligen schwindet, kann das Vertrauen zerstören
Besuchspartnerschaften mit jungen Freiwilligen der "Freunde alter Menschen" befreien Einsame aus der Monotonie. Diese Freiwilligen seien meist Studenten oder Menschen am Anfang ihres Berufslebens, erzählt Sukstorf. Doch romantische Vorstellungen wie "die ältere Dame, die ich besuche, bringt mir dann das Sockenstricken bei" erfüllen sich dabei eher selten. "Wir betreuen auch Menschen, die verbittert sind, gesundheitliche Sorgen haben oder deren Lebensumstände sehr belastend sein können", sagt Sukstorf. Um die Freiwilligen nicht zu überfordern, sollten die Besuchsabstände nicht zu kurz sein. Wenn die Freiwilligen am Anfang zu enthusiastisch seien, das Interesse oder die Zeit aber allmählich weniger würden, könne das zu Enttäuschung bei den Alten führen, die man erst so mühselig aus ihrer Isolation geholt habe. Das zerstöre Vertrauen. Die Hauptsache sei Verlässlichkeit.
Die wenigsten kommen von sich aus auf die Organisation zu. Angehörige, Nachbarn, Hausmeister stoßen den Kontakt an. Sukstorf sieht es wie Familienministerin Franziska Giffey (SPD) als Aufgabe der Gesellschaft, Menschen aus ihrer Isolation zu holen. "Wie viele Leute kennt man denn noch in seiner Nachbarschaft?", fragt Sukstorf. Viele alte Menschen würden durch die Gespräche wieder nach vorne blicken. Eine 89 Jahre alte Dame, die sie regelmäßig besuchten, mache sich schon Gedanken, wie sie ihren 90. Geburtstag feiern werde. "Sie gewinnen Lebensfreude zurück."
An Lebensfreude fehlt es aber nicht nur alten Menschen, die einsam sind. Auch Kindern kann es so gehen. Eine Langzeitstudie des Robert-Koch-Instituts hat festgestellt, dass 4,2 Prozent der Elf- bis 17-Jährigen sich oft oder immer einsam fühlen, Mädchen häufiger als Jungen. Mit dem Alter nähmen die Einsamkeitsgefühle zu. Eine Risikogruppe sind Jugendliche, die neben der Schule Angehörige pflegen müssen. Hanneli Döhner von der Allianz für pflegende Angehörige in Hamburg sagt, diesen Jugendlichen bleibe meist kaum oder wenig Zeit für Freunde und Freizeitaktivitäten. Fehlendes Verständnis in der Schule, etwa für häufige Absenzen im Unterricht, und Angst vor Mobbing führten dazu, dass die betroffenen Kinder auch von sich aus nicht darüber sprächen.
Sind einsame junge Menschen einsam, weil sie viel im Internet sind? Oder ist es umgekehrt?
Maike Luhmann, die als Professorin an der Ruhr-Universität Bochum Einsamkeit und deren Folgen erforscht, sagt, Einsamkeit bei Kindern sei oft nicht einfach zu erkennen. "Wir wissen aber aus Studien, dass Eltern durchaus einschätzen können, ob ihr Kind einsam ist." Warnsignale seien zum Beispiel, dass das Kind nur wenig Kontakt mit Freunden habe oder sich zurückziehe - auch von der Familie - und bedrückt oder feindselig wirke. "Dann kann es helfen, vorsichtig nachzufragen", sagt Luhmann. Sie rät zu viel Geduld. Niemand gebe gerne zu, allein zu sein.
Macht das Internet einsam? Das werde oft behauptet, sagt Oliver Huxhold. Aber "da tagt die Jury noch". Zumindest im jungen Alter seien tatsächlich viele einsame Menschen viel im Internet unterwegs. "Jetzt weiß man aber nicht, was Henne und was Ei ist", so Huxhold. Es komme darauf an, was man im Internet mache. "Wenn man das Internet nutzt, um sich quasi berieseln zu lassen, darin zu verschwinden, und dadurch weniger real existierende Kontakte hat, die man persönlich treffen kann, dann führt das dazu, dass Menschen einsamer werden", sagt der Einsamkeitsforscher. Wenn man allerdings die Kommunikationsformen im Internet nutze, um Kontakte zu pflegen, sei das eher gut.
Huxhold wünscht sich, dass die verschiedenen Initiativen, die Einsamkeit bekämpfen, bekannter werden. So werde auch das Stigma bekämpft, damit Menschen überhaupt sagen könnten: Ich bin einsam. Es sei in der durchgestylten Welt der Likes vermutlich sogar schwieriger geworden, sich dazu zu bekennen. "Insgesamt können wir ja besser über unsere Gefühle reden als noch vor ein paar Jahrzehnten", sagt Huxhold. Nur beim Thema Einsamkeit nicht.