Krieg in Nahost:Was wir über die Angriffe auf das Flüchtlingslager Dschabalia wissen - und was nicht

Lesezeit: 3 min

Palästinenser inspizieren die Schäden an Gebäuden, die im Flüchtlingslager Dschabalia zerstört wurden. (Foto: Abdul Qader Sabbah/dpa)

Zweimal kam es in dieser Woche zu Explosionen im größten Flüchtlingslager Gazas. Das israelische Militär griff nach eigenen Angaben die Hamas in der Region an. Es gibt zahlreiche Opfer - und offene Fragen.

Von Juri Auel

In einem Flüchtlingslager im Norden des Gazastreifens hat es schwere Schäden und Opfer gegeben. Ein Überblick über die gesicherten Fakten zu dem Vorfall.

Was wir wissen

Außer Zweifel steht, dass es im Flüchtlingslager Dschabalia im Norden des Gazastreifens am Dienstag einen ersten, heftigen Angriff gab. Davon zeugen zahlreiche Bilder und Videos, die von Nachrichtenagenturen und im Internet verbreitet werden. Die Aufnahmen zeigen mehrere große Krater, die umstehenden Häuser scheinen völlig zerstört. Auf einigen Bildern sind Dutzende zumeist in weiße Tücher gehüllte Leichen zu sehen, darunter sind augenscheinlich auch Kinder.

Die israelische Armee bekannte sich dazu, in der Region Luftschläge ausgeführt zu haben, und gab an, eine militärische Basis der Hamas, die in derselben Region wie das Flüchtlingscamp liegt, beschossen zu haben. Ziel des Luftschlags sei ein hochrangiger Vertreter der Hamas gewesen. Ibrahim Biari habe unter anderem bei den terroristischen Angriffen der Hamas auf Israel am 7. Oktober eine wichtige Rolle gespielt. Außerdem soll Biari die aktuellen Kämpfe der Hamas im Norden des Gazastreifens koordiniert haben. Neben ihm seien weitere Terroristen getötet worden.

Helfer auf der Suche nach Überlebenden. (Foto: Doaa AlBaz/AP)

Auf zivile Opfer des Angriffs auf das Camp angesprochen, sagte ein Sprecher der israelischen Armee dem Sender CNN: "Das ist die Tragödie des Krieges." Der gesuchte Terrorist Biari habe sich wie für die Hamas üblich zwischen Zivilisten versteckt. Die israelische Armee wiederholte ihren Aufruf an die Bewohner des nördlichen Gazastreifens, in den Süden zu fliehen.

Israel sagte, die große Verwüstung sei auch auf Tunnel der Hamas zurückzuführen, die unterhalb der Häuser gebaut seien. Der Zusammenbruch dieser Strukturen habe Häuser kollabieren lassen. Zwar ist nicht bekannt, wo genau die Hamas überall Tunnel hat - die Existenz eines weitverzweigten Tunnelnetzes unterhalb des Gazastreifens ist jedoch gesichert.

Die Tunnelanlagen im Gazastreifen gelten als zentrales Ziel der israelischen Bodenoffensive, da die Hamas von dort aus ihre Angriffe auf Israel steuert. Zudem wird vermutet, dass sich zumindest einige der etwa 240 von der Hamas in den Gazastreifen verschleppten Geiseln dort aufhalten könnten.

Am Mittwoch wurde das Lager erneut bombardiert. Aufnahmen zeigten, wie Rauch über dem Lager aufstieg und Menschen Trümmerhaufen durchsuchten und die Verletzten wegtrugen.

Im Flüchtlingscamp Dschabalia leben vertriebene Familien aus Kriegen der Palästinenser mit Israel, die bis ins Jahr 1948 zurückreichen. Dem UN-Palästinenserhilfswerks UNRWA zufolge ist Dschabalia das größte von acht Flüchtlingslagern im Gazastreifen. Es liegt nördlich von Gaza-Stadt. Die Größe beträgt 1,4 Quadratkilometer. 2023 seien dort etwa 116 000 Flüchtlinge registriert gewesen - was laut UN nicht heißt, dass tatsächlich so viele Menschen in dem Camp leben. Anders als andere Flüchtlingslager besteht es nicht aus Zelten, sondern Häusern.

Was wir nicht wissen

Unklar ist, ob der Hamas-Terrorist Ibrahim Biari tatsächlich bei dem Angriff ums Leben gekommen ist, so wie Israel behauptet. Die Hamas dementierte, dass hochrangige Vertreter der Terrorgruppe in dem Camp anwesend waren. Die Behauptung diene Israel nur als Rechtfertigung eines Angriffs auf Zivilisten.

Auch die genaue Anzahl der Opfer insgesamt ist unklar. Israels Armee kann nach eigener Darstellung noch nicht sagen, wie viele Zivilisten bei ihren Angriffen getötet wurden. Die radikal-islamistische Hamas erklärte, es gebe 400 Tote und Verletzte. Mitarbeiter eines Krankenhauses in Gaza sprachen von insgesamt mehr als 50 toten Palästinensern und 150 Verwundeten. Außerdem sollen sieben Geiseln getötet worden, darunter drei mit ausländischem Pass. Das teilten die Kassam-Brigaden mit.

Bei dem zweiten Angriff am Mittwoch seien "Dutzende" Menschen getötet und verletzt worden, hieß es aus dem von der Hamas kontrollierten Gesundheitsministerium im Gazastreifen. Unabhängig überprüfen lassen sich die Angaben nicht.

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In vorsichtigen Worten deutet Israels Ministerpräsident eine Vereinbarung mit der Hamas an. Das Al-Schifa-Krankenhaus in Gaza-Stadt stellt angeblich den Betrieb ein - nach israelischen Angaben lehnte die Hamas eine Treibstofflieferung für das Haus ab.

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Die Reaktionen

Ägypten verurteilte den Angriff Israels noch am Dienstagabend als "unmenschlich" sowie als "eklatante Verletzung des Völkerrechts". Man warne vor den Folgen der "wahllosen Angriffe auf Zivilisten in und um Krankenhäuser, wo sie Zuflucht suchen", hieß es aus Kairo. Auch Jordanien verurteilte den israelischen Angriff "auf das Schärfste", ähnlich äußerte sich Saudi-Arabien.

Aus Washington gab es ebenfalls Reaktionen. Pentagon-Sprecher Patrick Ryder sagte CNN zufolge, dass das israelische Militär im Gegensatz zur Hamas nicht absichtlich Zivilisten angreife. Er sagte, er könne nicht "über einzelne israelische Angriffe sprechen", aber das Pentagon sei "besorgt über zivile Opfer, und wir haben sowohl öffentlich als auch nicht öffentlich deutlich gemacht, dass uns der Schutz unschuldigen Lebens und die Achtung des Kriegsrechts am Herzen liegen".

Das Menschenrechtsbüro der Vereinten Nationen schließt nicht aus, dass der Luftangriff auf Dschabalia ein Kriegsverbrechen darstellen könnte. "Angesichts der hohen Zahl ziviler Opfer und des Ausmaßes der Zerstörung (...) sind wir ernsthaft besorgt, dass es sich um unverhältnismäßige Angriffe handelt, die Kriegsverbrechen darstellen könnten", erklärt das Büro des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Menschenrechte auf X, ehemals Twitter.

Auch der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell, Spaniens Außenminister José Manuel Albares und Irlands Außenminister Micheál Martin äußerten sich kritisch über die Bombardierung von Dschabalia.

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