NS-Zeit:Der stumpfe Glanz der Diktatur

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Noch scheint alles normal zu sein: Sommerlager des BDM-Werkes "Glaube und Schönheit" bei Neuruppin im Juli 1939. (Foto: Scherl/Süddeutsche Zeitung Photo)

Tillmann Bendikowski zeigt eindrucksvoll, wie die allermeisten Deutschen sich 1938/39 mit Hitlers Regime arrangiert hatten. Das allzeit Bedrohliche und die Judenverfolgung störten offenbar nicht.

Von Cord Aschenbrenner

Zu bald jedem Jahr der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gibt es ja mittlerweile ein Buch. Tillmann Bendikowski, Publizist und Verfasser vieler populärhistorischer Werke, hat dieser Art der historischen Betrachtung nun noch einen kleinen Dreh gegeben, indem er das Genre des Jahreswechselbuchs kreiert hat. Könnte man nach flüchtiger Lektüre boshaft schreiben. Bei näherem Hinsehen kann man Bendikowski genaue Überlegung jedoch nicht absprechen. Sein Buch mit dem Aufmerksamkeit heischenden Titel "Hitlerwetter" umfasst die zwölf Monate vom Dezember 1938, der letzten "Friedensweihnacht" für die Deutschen, bis zum 8. November 1939, als der schwäbische Schreiner Georg Elser zwei Monate nach dem deutschen Überfall auf Polen vergeblich versuchte, Adolf Hitler mit einer Zeitzünderbombe im Münchner Bürgerbräukeller zu töten.

Wer gehorchte, musste wenig befürchten

Warum gerade diese zwölf Monate, und was lässt sich mit der Schilderung eines Jahres der NS-Diktatur überhaupt zeigen? Denn Bücher über den Nationalsozialismus insgesamt wie auch Einzelstudien zu dem, was ihn ausmachte, gibt es in unüberschaubarer Zahl - hilft es der historischen Erkenntnis wirklich weiter, ein einzelnes Jahr herauszugreifen? Bendikowski begründet die Wahl der zwölf Monate zwischen den Adventswochen 1938 und dem November 1939 damit, dass sie die Mitte der etwas mehr als zwölf Jahre dauernden NS-Herrschaft bilden.

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Hitlers Diktatur war stabil, wie nicht zuletzt die Pogrome vom 9. und 10. November 1938 gegen die noch in Deutschland lebende jüdische Bevölkerung gezeigt hatten, gegen die kaum jemand protestiert hatte - die Deutschen fügten sich dem brutalen Antisemitismus ihrer Regierung, viele hießen ihn gut, sehr viele profitierten von der "Arisierung" des Eigentums ihrer vertriebenen und getöteten jüdischen Nachbarn und Mitbürger. Politische Gegner waren längst geflohen, in Haft oder ermordet. Und spätestens seit dem Münchner Abkommen vom September 1938 galt Hitler, der "Führer und Reichskanzler", als Bewahrer des europäischen Friedens. Die Deutschen hatten sich eingerichtet in der Diktatur; wer den Vorgaben des Regimes gehorchte, hatte im täglichen Leben wenig zu befürchten.

Welche Kriegsgefahr? Münchner genießen in einem Biergarten am Kleinhesseloher See die ersten Sonnenstrahlen im Frühling 1939. (Foto: Knorr + Hirth/Süddeutsche Zeitung Photo)

Um diese tägliche Normalität in den letzten Monaten des Dritten Reichs vor dem Zweiten Weltkrieg und in den ersten Kriegswochen geht es Tillmann Bendikowski; um das ",normale Leben', in dem längst auch das Verbrecherische zum Alltag gehörte", wie er schreibt. Bendikowski weist darauf hin, dass die alltäglichen Praktiken der Menschen in der Diktatur, die familiären und gesellschaftlichen Sitten und Gebräuche sich nicht sehr von den heutigen unterschieden - Muttertag, Sommerferien, Sonntagskuchen und Kinobesuche gab es für die große, schweigende und mitlaufende Mehrheit der Deutschen auch in der Diktatur, meistens garniert mit Hitler-Gruß und braunen Uniformen.

Gelegentlich kamen Paraden oder Geländemärsche für die Hitlerjugend dazwischen, aber Fußballspiele gab es eben auch. Wie lebten sie, und waren sie wie wir, die Bürger des NS-Staates? Ganz klar beantwortet Tillmann Bendikowski diese Frage nicht, aber nicht zu Unrecht verweist er auf Traditionen wie den Sonntagsspaziergang, den unsere Groß- und Urgroßeltern ungeachtet der äußeren Umstände ebenso seelenruhig und selbstzufrieden absolvierten wie wir Heutigen.

Die Bräuche werden angepasst, etwa die "Deutsche Weihnacht"

Das Buch beginnt mit der Adventszeit 1938, der für viele nicht mehr das christliche geprägte Weihnachtsfest folgte, sondern die "Deutsche Weihnacht", das von den Nationalsozialisten umgedeutete, germanisch angehauchte und "dechristianisierte" Fest, wie Victor Klemperer notierte. Auf das Verhältnis der beiden großen Kirchen zum NS-Staat und den Zerfall der Protestanten in "Deutsche Christen" und "Bekennende Kirche" geht Bendikowski im Kapitel über den März 1939 ein, als die Deutschen Christen ihre völkisch geprägte, antisemitische "Godesberger Erklärung" verabschiedeten.

Ein Sommer mit kleinen Merkwürdigkeiten: Hitlerjungen üben das Aufsetzen von Gasmasken in Berlin. (Foto: Scherl/Süddeutsche Zeitung Photo)

Im Juni folgt der "Ernteeinsatz" der Hitlerjugend, im Oktober 1939 geht es um die Sorgen eines Obersts wegen der lückenhaften Schulbildung der ihm anvertrauten Offiziersanwärter. Solche durchaus charakteristische Begebenheiten allein wären jedoch zu wenig, um Stimmung und geistige Beschaffenheit der NS-Gesellschaft zu erfassen. Bendikowskis nicht zu unterschätzende Leistung besteht darin, jedes der zwölf Kapitel mithilfe eines großen Fundus aus Einzeluntersuchungen zur NS-Zeit, gedruckten Quellen, Tagebüchern und Zeitungsartikeln so anzulegen, dass Monat für Monat ein tiefer, erhellender Blick in den ideologisierten, fast immer dem Regime dienlichen Alltag der Deutschen gelingt.

Die Überhöhung des Begriffs "Arbeit", die alljährliche Ausbeutung von Kindern und Jugendlichen in der Landwirtschaft, die Wissenschafts- und Intellektuellenfeindlichkeit, die nationalsozialistische Geburtenpolitik, die staatlich propagierte Pflicht zur Gesundheit samt ständiger Leibesübungen - die Deutschen, diesen Eindruck vermittelt das Buch, waren in fast jeder Hinsicht eingeschnürt. Aber sie ergaben sich nicht unzufrieden in ihr Schicksal, weil der deutsche Daseinskampf und der "Führer" es schließlich forderten.

Möweneier zum "Führer"-Geburtstag

Kaum anders war es, als der Diktator seinem Volk am 20. April 1939 einen Tag freigab. Die Menschen sollten seinen 50. Geburtstag - möglichst bei sonnigem "Hitlerwetter" - angemessen begehen können. Ein freier Tag im Grünen fürs Volk wäre etwas für verweichlichte Demokratien gewesen (die natürlich niemals einem aktiven Politiker derart gehuldigt hätten), stattdessen gab es Aufmärsche, Reden, Paraden, Treueschwüre und zahllose gedruckte Lobhudeleien. Und selbstverständlich haufenweise Geschenke, so als sei der "Führer" ein von allen geliebter Onkel: ein von einem Friseur aus Haar geknüpftes Hakenkreuz, das Modell einer Flugabwehrkanone, 6000 Paar von den Müttern des Gaues Westfalen-Süd gestrickte Socken, Möweneier von der Stadt Schleswig ...

Tillmann Bendikowski: Hitlerwetter. Das ganz normale Leben in der Diktatur: Die Deutschen und das Dritte Reich 1938/39. Verlag C. Bertelsmann, München 2022. 560 Seiten, 26 Euro. E-Book: 19,99 Euro. (Foto: C. BERTELSMANN)

Absurdes und Bedrohliches lagen nicht nur an "Führers Geburtstag" dicht beieinander, das zeigt Tillmann Bendikowskis gelungenes Buch.

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