Die Grenze zwischen der schönen und der schlimmen Nordstadt verläuft in dieser Nacht quer zwischen den Bäumen und Büschen auf dem Nordmarkt. Links: junge Leute auf Holzstühlen. Sie tragen Dreitagebärte und Hornbrillen und trinken Gin Tonic im "Grünen Salon". Das Café hat hier im Februar aufgemacht. Rechts: Zwei Frauen hängen auf einer Parkbank rum und rauchen Schore, verdampftes Heroin. Ein Mann, die Plastiktüte voll Bier, gigantische Zahnlücke, will Sex von ihnen.
In der Dortmunder Nordstadt kommt es immer auch darauf an, was man sehen will.
Das öffentliche Urteil über den Stadtteil ist längst gefällt, so wirkt es zumindest. Wenn man ihn googelt, erscheint als erster Vorschlag in der Suchmaske "Drogen", als zweiter "Kriminalität". Und wenn man die Menschen in Nordrhein-Westfalen fragt, was für sie eigentlich eine "No-Go-Area" ist, eine Gegend, in die man nicht gehen kann, dann sagen viele: die Dortmunder Nordstadt.
Mit den "No-Go-Areas" will die CDU die Landtagswahl gewinnen
Dafür gibt es mehrere Gründe. Einer geht auf die nordrhein-westfälische CDU zurück. Nachdem Polizeibeamte im Herbst 2016 bei zwei Vorfällen von einer Menschentraube bedrängt worden waren, debattierte der Landtag auf CDU-Antrag über "No-Go-Areas in Dortmund", die regionalen Medien berichteten groß. Nun ist es der Spitzenkandidat Armin Laschet, der immer wieder die Erzählung von den "No-Go-Areas" aufgreift, auch wenn er dabei nicht explizit die Nordstadt erwähnt. Neben der Kölner Silvesternacht, dem Fall Anis Amri und der Einbruchstatistik bilden die "No-Go-Areas" sein Wahlkampfthema Nummer eins, die innere Sicherheit. Damit will er die Wähler im Westen überzeugen und nach der Landtagswahl am kommenden Sonntag Ministerpräsident werden.
Der Beweis, dass die Nordstadt keine No-Go-Area im Wortsinn ist, lässt sich vergleichsweise einfach führen. Man muss sich nur eine Nacht lang an die Kreuzung Mallinckrodtstraße/Schleswiger Straße setzen. Hier, vor dem "Internetcafé Europa", stehen im Neonröhrenlicht dunkelhäutige Männer in Pulks zusammen und beäugen jeden, der vorbeiläuft. Es wird gedealt und auf den Boden gespuckt, in einer Pfütze am Bordstein schwimmen Plastiktüten. Die Kreuzung gilt als die verrufenste Ecke im Stadtteil.
Hier also muss man sich hinsetzen, auf seinem Smartphone herumspielen und den Laptop aus dem Rucksack holen. Es passiert: rein gar nichts. Bis ein etwa 15-jähriger Junge kommt, mit wirren Haaren und einem Angebot.
- Alles gut, Bruder?
- Ja, danke.
- Brauchst Du Hilfe?
- Nee, alles gut.
- Brauchst Du Weißes?
- Nee.
Das ist der eine Teil der Realität in der Dortmunder Nordstadt. Hier werden Drogen verkauft und konsumiert. Es gibt auch Diebstähle und Schlägereien, und selten gab es auch Schießereien. All das ist schlimm, aber all das gab es auch schon in anderen Großstädten. Ein rechtsfreier Raum ist die Dortmunder Nordstadt nicht. Schon deswegen, weil man in einer einzigen Nacht mehr als ein Dutzend Streifenwagen herumfahren sieht und Polizisten, die auf den Straßen kontrollieren, also Recht durchsetzen. Die Zahl der Straftaten ist in den vergangenen beiden Jahren deutlich gesunken, die Aufklärungsquoten gestiegen.
In den vergangenen Jahren sind viele Studenten in die Nordstadt gezogen. Der "Grüne Salon" ist nicht der einzige Ort, an dem man sie trifft. Das Roxy-Kino an der Münsterstraße zeigt an diesem Abend zwei Arthouse-Filme, im "Subrosa" in der Gneisenaustraße klackern die Tischkicker, im "Depot" in der Immermannstraße eröffnet die Ausstellung der besten Pressefotos 2017. Hippe Orte wie diese sind der Grund, warum der Nordstadt-Bürgermeister Ludwig Jörder seinen Bezirk in erster Linie für lebenswert hält. Er lobt das kulturelle Angebot.
Aber Jörder weiß auch, dass es einen anderen Teil der Realität gibt. Das sind die vielen Menschen, die sagen: Ich komme hier nicht gerne hin, vor allem nicht nachts. Wegen der Trinker, wegen der Drogensüchtigen und Dealer. Diese Menschen würden sich darüber freuen, wenn die Polizei im Stadtteil noch präsenter wäre. Die Dortmunder Polizei teilt mit, sie setze in der Nordstadt so viele Beamten ein wie nie zuvor. Man hört aber auch von Beamten, die über die vielen Überstunden klagen. Gegen noch ein paar zusätzliche Polizeistellen hätte in der Nordstadt niemand etwas.
Ein Treppenhaus voller Kot und Uringestank
Die andere Frage ist, ob mehr Polizisten die Probleme des Stadtteils lösen würden. Eine Antwort darauf bekommt man an einem Apriltag in der Mallinckrodtstraße. Man muss an dem Mehrfamilienhaus mit der schmutzig-weißen Tür nicht klingeln, sie hat längst kein Schloss mehr. Im Hinterhof und im Treppenhaus türmt sich der Müll. Eine Wand ist mit Kot beschmiert, darunter eine Pfütze. Es riecht dermaßen nach Urin, dass einem übel wird. Irgendwo oben weint ein Kind.
Ein Mann kommt die Treppe herunter, vielleicht dreißig Jahre alt, das Gesicht blass, die Augen geschwollen. Deutsch kann er nicht, aber ein paar Brocken Spanisch. Bei Barcelona hat er gearbeitet, sagt er. Eigentlich kommt er aus Rumänien. Jetzt, in Dortmund, ist er Müllsammler. Ist der Job offiziell angemeldet, hat er eine Krankenversicherung? "Ich verstehe nicht", sagt er. Und geht.
Im Jahr 2007 sind Rumänien und Bulgarien der Europäischen Union beigetreten. Mehrere tausend Zuwanderer kamen daraufhin in die Dortmunder Nordstadt, und mit ihnen das soziale Elend. Viele finden bis heute keine Arbeit, zumindest keine legale. Arbeitslosengeld können sie nicht beantragen, laut deutschem Recht müssten sie dafür in ihre Heimat zurück. Weil sie das nicht wollen oder können, rutschen viele in illegale Arbeits- und Wohnverhältnisse. Sie stehen morgens auf der Mallinckrodtstraße und warten auf jemanden, der sie für ein paar Stunden bezahlt. Sie hausen in überbelegten, heruntergekommenen Häusern, mal ohne funktionierende Kanalisation, mal ohne Strom. Sie seien in der Nordstadt mit einer Armut konfrontiert, die sie früher für unvorstellbar gehalten hätten, sagen Sozialarbeiter.
Viele der Armen landen irgendwann bei Frank Merkel. Er ist einer der Leiter von "Willkommen Europa", einer von mehreren sozialen Trägern ins Leben gerufenen Anlaufstelle für EU-Zuwanderer, die Hilfe brauchen. Es kommen vor allem Rumänen und Bulgaren, sagt Merkel, in letzter Zeit aber auch Menschen aus Spanien und Italien. Auf die Dauer, glaubt Merkel, gibt es nur eine Möglichkeit, wie man den Menschen helfen kann.
Einige der Zuwanderer schaffen es, sagt Merkel. Sie werden Zeitungszusteller oder Lagerarbeiter und ziehen in bessere Wohnungen. Andere schaffen es nicht. Sie bleiben in den elenden Häusern. Die Stadt Dortmund hat in den vergangenen Jahren einige dieser "Problemimmobilien" aufgekauft und saniert. Aber längst nicht alle.
Die Sozialarbeiter von "Willkommen Europa" ärgern sich über einen Satz, den mal eine Zeitung über die Nordstadt geschrieben hat. Es gebe hier so viele Initiativen, dass man bei einem Sprung aus dem Fenster aufpassen müsse, nicht auf einem Sozialarbeiter zu landen, stand da. Dabei seien viele Projekte nur kurzfristig finanziert, sagen sie. Und es kämen immer mehr Menschen zu ihnen. Sie schließen inzwischen die Tür ab, weil sonst ständig jemand hereinplatzen würde und sie ihre Arbeit nicht mehr machen könnten. Nur wer einen Termin hat, wird vorgelassen.
Die Nordstadt war schon immer ein Stadtteil der Zuwanderer. Im 19. Jahrhundert kamen osteuropäische Arbeiter, um die Eisenbahn aufzubauen. Nach dem Zweiten Weltkrieg kamen Gastarbeiter, vor allem aus der Türkei. Es kamen auch Portugiesen und Norweger, Syrer, US-Amerikaner, Kenianer, Russen und Algerier. Heute leben Menschen aus 140 Nationen in der Nordstadt. Alle, die man hier trifft, scheinen sich in einem einig zu sein: Die Debatte um die angebliche No-Go-Area schadet dem Stadtteil viel mehr, als dass sie ihm nutzt.
Wie sie schadet, erfährt man an der Ecke Münsterstraße/Priorstraße im marrokanischen Supermarkt. Mohamed Taie trägt einen weißen Kittel mit einem Blutfleck darauf. Er steht hinter der Fleischtheke, hebt das Beil und zerteilt ein Stück Lammhüfte.
Taie kam Anfang der achtziger Jahre nach Deutschland, aus Marokko, er war drei Jahre alt damals. Den Supermarkt hat er 1999 von einem Freund übernommen. In den ersten Jahren ging das Geschäft gut, sagt er, aber mit den Jahren kämen immer weniger Leute. "Sie trauen sich nicht mehr hier hin", sagt Taie, "eben weil immer in der Zeitung steht, dass es hier so gefährlich ist." Einige Läden haben schon zugemacht, sagt er, und dass er fürchtet, dass es bald noch mehr werden. "Dann gibt es hier nur noch Internetcafés und Spielcasinos". Und dann kämen irgendwann vielleicht auch keine Menschen mehr in seinen Supermarkt.
Nach Ladenschluss lädt Taie ein zum Minztee im marokkanischen Restaurant ein paar Schritte weiter, es gehört seiner Tante. Er erzählt, dass sich in den vergangenen Jahren viel verändert hat, vor allem seit der Kölner Silvesternacht. Seitdem, sagt er, würde er immer öfter angefeindet. Dabei hat er längst einen deutschen Pass. Nach einer Stunde entschuldigt er sich, er muss zu seiner Frau und seinem einjährigen Sohn, das Abendessen steht gleich auf dem Tisch. Mit ihnen wohnt er gleich um die Ecke, mitten in der Zone, die man angeblich nicht betreten kann.
Am nächsten Morgen scheint auf dem Nordmarkt die Sonne. Ein Mann im Trainingsanzug wischt eine Parkbank sauber, schmeißt Bier- und Schnapsflaschen in den Mülleimer. Ein zweiter Mann kommt, setzt sich auf eine andere Parkbank und entkorkt sein Hansa Pils. In der Dortmunder Nordstadt kommt es immer auch darauf an, was man sehen will.