Dimitri Muratow:„Die Geschichte des unabhängigen Journalismus ist vorbei“

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Dmitri Muratow, Journalist und Friedensnobelpreisträger (Foto: Alexander Zemlianichenko/AP/dpa)

Die Presse- und Meinungsfreiheit in Russland existiert nicht mehr, sagt der Friedensnobelpreisträger und Chefredakteur der von Russland verbotenen „Nowaja Gaseta“, Dmitri Muratow. Viel mehr kann er aber bei seinem Besuch nicht sagen - aus einem bestimmten Grund.

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Hamburg/Moskau (dpa) - Für den Friedensnobelpreisträger und renommierten russischen Journalisten Dmitri Muratow gibt es in seinem Heimatland weder Presse- noch Meinungsfreiheit. „Die Geschichte des unabhängigen Journalismus ist vorbei, ist abgeschlossen“, sagte der 61-Jährige am Montag zum Auftakt der ersten Hamburger Woche der Pressefreiheit in der Hansestadt. Was das konkret bedeutet, machte der Chefredakteur der von Russland verbotenen „Nowaja Gaseta“ im NDR-Gespräch mit Ingo Zamperoni auch gleich klar. Da er noch in Moskau lebe und dorthin zurückkehren werde, könne er in Hamburg nur das sagen, was er auch in der russischen Hauptstadt sagen könne - und betonte: „In Moskau kann ich über nichts mehr erzählen.“

Muratow forderte vom Kreml Aufklärung im Fall der „Nowaja Gaseta“-Reporterin Jelena Milaschina und des Anwalts Alexander Nemow, die Anfang Juli in der tschetschenischen Hauptstadt Grosny entführt und misshandelt worden waren. „Der offizielle Kreml hat versprochen, dass dieses Verbrechen staatlich untersucht wird“, sagte Muratow und zeigte ein Foto der schwer verletzten Milaschina. Mehr als neun Wochen seien seit dem Überfall vergangen, Ergebnisse gebe es bislang aber nicht - etwa zur Frage, warum während des Überfalls alle Überwachungskameras ausgeschaltet gewesen seien.

Für die prekäre Lage der Pressefreiheit in Russland sei auch der Westen mitverantwortlich. Aus Sicht von Muratow ging es viele Jahre um die Frage: „Brauchen Sie Gas in Deutschland oder die Pressefreiheit in Russland?“ Die Antwort habe ganz realpolitisch über 20 Jahre gelautet: das Gas. In Russland, sagte er weiter, seien Öl und Gas wichtig, „die Menschenrechte aber nicht“.

Am Abend nahm Muratow an einem Senatsempfang anlässlich der Woche der Pressefreiheit im Hamburger Rathaus teil. Vor rund 250 Gästen erinnerte er an das politische Wirken und Erbe des früheren Staatspräsidenten der Sowjetunion, Michail Gorbatschow. Er würdigte dessen erfolgreiches Bemühen, die Sowjetunion für Rede- und Pressefreiheit zu öffnen und einen Krieg mit der Nato zu verhindern.

„Krieg ist ein Versagen der Politiker“, betonte Muratow. Der 61-Jährige will mit einer neuen Zeitschrift an die Denktradition Gorbatschows anknüpfen und dazu beitragen, dass Friedenspolitik sich wieder in seiner Heimat durchsetzen kann. Bislang sei das aber von den Behörden nicht zugelassen worden.

Hamburgs Kultur- und Mediensenator Carsten Brosda sagte, wo die Pressefreiheit ende, gerate auch die Demokratie in Lebensgefahr. „Daher müssen wir uns immer und überall stark machen für freie Medien“, betonte der SPD-Politiker. Auch in Europa gerate die Presse mehr denn je unter Druck. „Was jahrzehntelang für Journalistinnen und Journalisten selbstverständlich war, muss mitunter gegen Widerstände und Drohungen verteidigt werden.“

Muratow war 2021 für seinen mutigen Kampf für die Meinungsfreiheit mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet worden. Anfang September wurde er von Moskau inmitten zunehmender Repressionen gegen Kremlkritiker als „ausländischer Agent“ eingestuft. Mit dem vielfach kritisierten Etikett brandmarkt Russlands Justiz sowohl Einzelpersonen als auch Organisationen. Viele kämpfen danach um ihre Existenz, weil beispielsweise Unterstützer, Wirtschaftspartner und Einnahmen wegbrechen.

© dpa-infocom, dpa:230911-99-155635/4

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