Der arabische Frühling nach dem Ende Gaddafis:Nach dem Umsturz ist vor der Revolution

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Die Niederlage des libyschen Despoten Gaddafi belebt den arabischen Frühling - doch der wirklich schwere Teil des Umsturzes beginnt erst nach dem Fall der Tyrannen. In Libyen genauso wie in Ägypten oder Syrien.

Mansura Eseddin

Wie überwältigend der Anblick der libyschen Revolutionäre war, die in Gaddafis Residenz in Bab al-Asisija vordrangen! Es erschien wie das Ende einer ganzen Epoche. Jener Epoche, in der sich die arabischen Länder von den ausländischen Besatzern befreit hatten, nur um dann Beute von Militärregierungen zu werden, die sich wie Besatzer benahmen.

Mit seiner One-man-Show blendete er alle. Weder das riesige Land noch das Volk, sondern nur Muammar al-Gaddafi mit all seinen sich ständig wandelnden Konterfeis war das Gesicht Libyens. Jetzt wehren sich die Menschen. (Foto: dpa)

Gaddafi ist dafür ein typischer Repräsentant: Als junger Mann ohne nennenswerte Erfahrung an die Macht gelangt, vermittelte er immer das Gefühl, wir lebten in einem vorstaatlichen Zeitalter. Er unterwarf ein gesamtes Volk seinen Launen und Lüsten und schlingerte kompasslos vom arabischen Nationalismus über den Internationalismus zum Traum vom Großkönig in Afrika. Er stand hinter der Ermordung hoher arabischer Funktionäre. Er tötete, folterte und ließ Oppositionelle spurlos verschwinden. Bei all dem präsentierte er sich als Dichter und Denker und fand unter den bekannten Autoren immer wieder welche, die für ein paar tausend Dollar lobhudelnde Artikel über seine "literarischen Werke" verfassten.

Libyen war einst bekannt durch den unerschrockenen Kampf seines Volkes gegen die italienische Besatzung. Omar al-Muchtar, den die Italiener im Jahre 1931 hinrichteten, wurde für die Araber zu einer Ikone. Dann, 1969, erschien Gaddafi, ließ den Staat mit seiner Geschichte, seiner Kultur und seiner Vielfalt verschwinden, trat selbst auf die Bühne und begann mit seiner One-man-Show. Mit dieser blendete er alle.

Man sah nicht mehr das Land, das zum Gefangenen seiner Neigungen und Phantasien wurde. Erst die Revolution vom 17. Februar, angeregt durch den Umsturz in Tunesien und Ägypten, brachte Libyen zurück ins allgemeine Bewusstsein. Nun zeigte sich, in welchem Ausmaß Libyen sich unter der Herrschaft des Obersten zu einem Staat für ein einziges Individuum, seine Familie und seine Stammesverbündeten entwickelt hatte. Mit seiner berühmten Frage an die Aufständischen: "Wer seid denn ihr? Wer seid denn ihr?" schien Gaddafi zuzugeben, dass er nur noch seine eigene Stimme hörte, nur noch sein eigenes Bild sah, nachdem er ein riesiges, reiches Land in ein Spiegelkabinett verwandelt hatte, dessen Spiegel aber nur ein einziges Bild wiedergaben: das sich ständig wandelnde Konterfei Gaddafis.

Mit seiner Erhebung zertrümmerte das libysche Volk diese Spiegel. Mit dem Fall von Tripolis fiel auch das Regime des Obersten. Und doch ist alles nicht so einfach.

Entkommt Libyen dem Chaos, sind auch Ägypter und Syrer stärker

Die Nachwirkungen des komödiantischen Diktators werden noch lange zu spüren sein, besonders solange Gaddafi selbst auf freiem Fuß ist. Kein Beobachter des arabischen Frühlings, der in Tunis begann und in Ägypten an Impetus und Bedeutung gewann, hätte jedoch zu Beginn geglaubt, dass Libyen darin eine wichtige, ja, eine zentrale Rolle spielen würde. Sollte es den Libyern gelingen, einen demokratischen Staat zu schaffen und den Schlingen des Chaos zu entkommen, die in jeder Ecke und jedem Winkel lauern, wird das dem arabischen Frühling den belebenden Kuss schenken.

Es wird neue Hoffnung wecken, dass die Fackel entflammt bleibt und zu anderen arabischen Staaten weiter wandert.

Wenn jedoch die libysche Revolution strauchelt und sich in einen Bürgerkrieg verwandelt, oder wenn der Gewalt kein Einhalt geboten werden kann, wäre das der herbeste Schlag gegen den arabischen Frühling. Es ist ja kein Geheimnis, dass die revolutionäre Flut, die stark und stürmisch begann und rasch von einem Land aufs andere übergriff, sich vielerorts eingedämmt sieht.

In Ägypten behindert der herrschende Militärrat auf unterschiedliche Art den Übergang zur Demokratie. Er lässt weiterhin Aktivisten inhaftieren und Zivilisten von Militärgerichten aburteilen (12.000 Ägypter wurden seit dem Beginn der Revolution in Militärgefängnisse gebracht). Auch in Tunesien gab es zwar eine Veränderung an der Spitze, doch die Machtstrukturen des früheren Regimes sind durchaus noch intakt.

Der Gaddafi-Clan
:Abstieg einer extravaganten Familie

Das libysche Regime bricht unter den Aufständen zusammen - und mit ihm der Gaddafi-Clan. Der Vater ist abgetaucht, die Mutter flieht mit mehreren Kindern nach Algerien, ein Sohn wird in Niger gesichtet. Die Zeit der Extravaganzen scheint vorbei. Dabei hatten einst vor allem die Söhne die Vorzüge der Macht genossen - unter anderem in Deutschland.

Die syrische Revolution steht nach wie vor dem brutalsten arabischen Regime gegenüber. Das Elend unter den Menschen ist unsäglich. Es gibt schreckliche Opfer auf Seiten der Revolutionäre und eine immense Zahl von Gefallenen, und all das vor den Augen der Weltöffentlichkeit. Im Jemen wird die Lage immer undurchsichtiger, und eine Entscheidung scheint in weite Ferne gerückt zu sein. Viele haben sich blind gestellt gegenüber den Verbrechen, die an den Revolutionären und den Demonstranten verübt wurden.

Die syrischen Revolutionäre dürfen sich nicht bewaffnen

Auf meiner Facebookseite habe ich nach dem Fall von Tripolis geschrieben: "Der Erfolg der libyschen Revolutionäre, also der Sturz Gaddafis, wird die größte Hilfe für die syrische Revolution sein. Heute Libyen und morgen Syrien!" Der Sturz eines Tyrannen wie Gaddafi wird die Moral der Syrer heben und diejenige von Baschar al-Assad und seinem brutalen Regime schwächen.

Manche Leute haben sich zur Behauptung verstiegen, bewaffnete Erhebungen seien wirksamer als unbewaffnete. Es wurden sogar Rufe nach Bewaffnung der syrischen Revolutionäre laut. Doch zum Glück gibt es auch besonnene Stimmen, die darauf hinweisen, dass das Festhalten am friedlichen Vorgehen, trotz aller Gewalttätigkeit des Assadschen Regimes, ein Punkt der Stärke ist und die moralische Überlegenheit dieser Revolution zeigt. Sollten sich die syrischen Revolutionäre bewaffnen, ließe das dem Regime noch freiere Hand bei seinem bestialischen Vorgehen. Dann würde es nämlich behaupten, es handle sich nicht um eine Erhebung, sondern um einen Krieg zwischen zwei ebenbürtigen Seiten. Und es würde versuchen, religiös-ethnische Gegensätze im Land zu mobilisieren. Bisher ist ihm das nicht gelungen, weil die Aufständischen sich bewusst an all dem orientierten, was sie vereint und verbindet.

Die diktatorischen Regimes können nicht weitermachen wie bisher. Die gesamte Region verändert sich dank der Erhebungen ihrer Völker und der Opfer, die sie gebracht haben. Jede Revolution geht ihren eigenen Weg, und die Wege unterscheiden sich voneinander. Jede Revolution schaut auf die anderen und lernt von deren Erfolg und Misserfolg. Doch das gemeinsame Ziel ist die Befreiung von Diktatur und Tyrannei. Es ist ein langer Weg. In Ägypten haben wir schon entdeckt, dass die wirklich schwere Revolution erst nach dem Sturz des Diktators beginnt.

Aus dem Arabischen von Hartmut Fähndrich

Mansura Eseddin, 34, ist ägyptische Schriftstellerin und arbeitet für das Literaturmagazin Akhbar al-Adab in Kairo. Auf Deutsch erschien zuletzt "Hinter dem Paradies" (Unionsverlag).

© SZ vom 14.09.2011 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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