Es ist ein symbolischer Platz, den Mustafa Abd al-Dschalil, der Präsident der neuen libyschen Führung, für seine Ansprache wählte: Am Montagabend trat er vor die Bürger auf dem Martyr's Square, der noch bis vor kurzem Green Square hieß. Genau hier hatte Libyens gestürzter Machthaber Muammar al-Gaddafi zu Beginn des sechsmonatigen Bürgerkriegs mehrfach geschworen, den Aufstand blutig niederschlagen zu lassen.
An diesem Montagabend aber versammelten sich Tausende Bürger, um ihre neu gewonnene Freiheit zu feiern, viele schwenkten die Flaggen der Revolutionäre. Als Dschalil ans Rednerpult trat, brach Jubel aus. Dschalil versprach die Schaffung eines Rechtsstaats und eines Sozialstaates, "in dem das islamische Recht Scharia die wichtigste Quelle der Gesetzgebung" sei.
Zugleich überraschte Dschalil mit scharfer Kritik an Gewalttaten, die Kämpfer der Rebellen an mutmaßlichen Anhängern Gaddafis verübt haben sollen. Auch sei die Würde der Familien der Gaddafi-Anhänger unantastbar. Die Revolutionäre dürften das Gesetz nicht in die eigene Hand nehmen, forderte er.
Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International hatte den libyschen Rebellen schwere Menschenrechtsverbrechen vorgeworfen. Nach dem Ausbruch des Aufstands gegen den libyschen Diktator im Februar hätten Oppositionskämpfer tatsächliche oder vermutete Anhänger des Gaddafi-Regimes oder ausländische Söldner entführt, willkürlich festgehalten, gefoltert und ermordet, teilten die Menschenrechtler in London mit.
Kritik richtete Dschalil bei seiner Ansprache aber auch an die Islamisten, die in den vergangenen Wochen immer wieder für interne Spannungen im Nationalen Übergangsrat gesorgt hatten: "Wir werden keine extremistische Ideologie von rechts oder links zulassen", sagte er. Und weiter: "Wir sind ein muslimisches Volk, treten für einen moderaten Islam ein und wir werden auf diesem Weg bleiben", zitierte der Nachrichtensender al-Dschasira den libyschen Übergangspräsidenten.
Zugeständnis an islamische Kräfte
Dschalils Auftritt war die größte öffentliche Versammlung der Revolutionäre seit der Erstürmung von Tripolis. Dschalil selbst war erst am Sonntag in die Hauptstadt gekommen und bei seiner Ankunft von Hunderten Menschen empfangen worden. Dass er erst Tage, nachdem die Anti-Gaddafi-Kämpfer die Hauptstadt eingenommen hatten, von Bengasi nach Tripolis gereist war, hat seine Gründe: Anders als in Bengasi scheinen in Tripolis die Islamisten eine stärkere Rolle zu spielen. Das zeigt sich etwa an Rebellen-Kommandeur Abdel Hakim Belhadsch, einem ehemaligen Emir der "Libyschen Islamischen Kampfgruppe" (LIFG).
Beobachter gehen davon aus, dass die islamistischen Kräfte im neuen Libyen eine wichtige Rolle spielen. Es könnte also auch ein Zugeständnis an diese Kräfte sein, dass Dschalil sich in Tripolis nun so deutlich für die Bildung eines Rechtsstaates auf Basis der Scharia ausspricht, galt doch der 59-Jährige bislang als Vertreter des eher weltlich orientierten Lagers. Eine andere Interpretation liefert der Erlanger Jurist und Islamwissenschaftler Mathias Rohe: In der muslimischen Welt sei das Wort säkular negativ besetzt, für die breite Mehrheit der Bevölkerung nimmt der Islam in der Kultur eine wichtige Rolle ein. Es könnte also auch ein Versuch von Dschalil sein, bei den Bürgern um Akzeptanz für das neue System zu werben.
Noman Benotman, selbst früherer Kämpfer der Libyschen Islamischen Kampfgruppe und heute Forscher am Londoner anti-islamistischen Think Tank Quilliam, schätzt, dass die politische Landschaft des neuen Libyens im Moment von vier größeren Lagern dominiert wird: Nationalisten, Liberalisten, Islamisten und Säkularisten. Die Nationalisten stellten etwa 40 bis 50 Prozent aller politischen Aktivisten in Libyen und seien damit die größte Gruppe. Benotman bewertet sie als nicht-ideologische Akteure, die sich für einen Zivilstaat auf Basis der libyschen Kultur und Demokratie aussprechen. Zwar würden sie den Islam dabei als integralen Bestandteil sehen, ihm aber nicht eine tragende Rolle im neuen Staatssystem zuschreiben.
Auch den Präsidenten der Übergangsregierung, Mustafa Abd al-Dschalil, rechnet der Experte zu diesem Lager. Der 59-jährige, moderate Muslim war früher Justizminister Gaddafis und hatte als solcher dem Despoten mehrfach widersprochen. Bei Menschenrechtsorgansisationen wie Amnesty International genoss er schon zu dieser Zeit einen guten Ruf, weil er mehrfach Menschenrechtsverstöße angeprangert hatte. Am 21. Februar, vier Tage nach Ausbruch der libyschen Rebellion, legte Dschalil seinen Posten als Justizminister aus Protest gegen den Einsatz von Gewalt gegen unbewaffnete Demonstranten nieder und schlug sich auf die Seite der Regimegegner.
Im Nationalen Übergangsrat gilt er als Gegengewicht zu den Islamisten. In dem Rat sollen neben ehemaligen Funktionären von Gaddafis Regime Rebellen, Stammesführer und Vertreter der Bildungselite eine Art Zweckgemeinschaft bilden. Allerdings gibt es nur ungenaue Angaben darüber, wie sich die Übergangsregierung genau zusammensetzt: Von den 40 Mitgliedern sind nur 13 namentlich bekannt, angeblich aus Sicherheitsgründen.
Ende März hatte der Rat seine Vorstellungen für einen Neuaufbau des Landes veröffentlicht: Unter dem Titel "Eine Vision für ein demokratisches Libyen" war die Rede vom Aufbau einer freien und demokratischen Gesellschaft sowie der "Gewährleistung der Vorherrschaft des internationalen humanitären Rechts und der UN-Menschenrechtsdeklaration". Nun also die Ankündigung, dass die Prinzipien der Scharia die wichtigste Quelle der Gesetzgebung im neuen Libyen sein sollen. Aber: Ist dies unter Anwendung der Scharia möglich?
Ägyptische Verfassung als Vorbild?
Das kommt darauf an, sagen Experten wie der Erlanger Jurist und Islamwissenschaftler Mathias Rohe. Und zwar darauf, in welche Richtung die Interpretation der Scharia geht. "Bürgerliche Freiheiten wie Partizipation und die Freiheit von staatlicher Willkür sind sehr wohl mit der Scharia vereinbar", erklärt er. Als Vorbild könnte die ägyptische Verfassung dienen, die in Artikel 2 den Islam zur Staatsreligion erklärt und die "Prinzipien der Scharia" als "Hauptquelle" der Gesetzgebung anführt.
Viel hängt davon ab, wie der Islam von den maßgeblichen Akteuren ausgelegt wird. Aus der Scharia lasse sich der Pluralismus der Interessen, die Partizipation sowie die Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit herleiten. Im Gespräch mit sueddeutsche.de zeigt sich Rohe "vorsichtig optimistisch", dass im neuen Libyen die Interpretation in diese Richtung gehe. "Die Idee eines Rechtsstaats ist den Menschen einfach besser zu vermitteln, wenn man ihnen erklärt: Das ist nicht etwas, das uns der Westen auferlegt, sondern etwas, das in unserer eigenen Kultur angelegt ist", so Rohe.
Weniger zuversichtlich gibt sich der Wissenschaftler in einem anderen Bereich: der Gleichstellung von Mann und Frau. Zwar waren an dem Aufstand in Libyen auch Frauen beteiligt. Doch schätzt Rohe den Einfluss der Traditionalisten in der libyschen Gesellschaft nach wie vor als sehr hoch ein. Die Gleichstellung der Geschlechter in zivilrechtlichen Fragen dürfte sich sehr viel schwieriger gestalten als das Zugeständnis politischer Rechte an die Bürger.