Debatte um Pädophilie:Grüne in der Zombie-Falle

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Wie groß war der Einfluss Pädophiler bei den Grünen? Die untote Debatte um diese Frage bedroht den Wahlkampf der Partei. Zu Hilfe kommen soll ihr jetzt der Wissenschaftler Franz Walter. Er soll die Fehler der Vergangenheit ein für alle Mal offenlegen - allerdings wird das wohl nicht mehr vor der Wahl geschehen.

Von Michael König, Berlin

Der Mann mit der Löwenmähne steht nicht im Verdacht, die Öffentlichkeit zu scheuen. Franz Walter, 57, ist eine Art Popstar unter den Politikwissenschaftlern. Er sitzt in T-Shirt und Jeans auf Podien und erklärt Konzernchefs die Welt. Er schreibt Kolumnen für Spiegel Online, vielen anderen deutschen Medien steht er als Interviewpartner zur Verfügung. Sein Themenspektrum reicht von A wie Alternative für Deutschland bis Z wie "Zerrissene Ketten: die CDU/CSU und das katholische Milieu."

Franz Walter ist Politikwissenschaftler in Göttingen. (Foto: dpa)

Jetzt soll Walter den Grünen helfen - in aller Stille. Keine Interviews, keine Mutmaßungen, keine Deutungen, "da sonst die Seriösität des Projekts von vornherein gefährdet wäre", heißt es in einer Erklärung seines Göttinger Instituts für Demokratieforschung. Seriosität, darum geht es. Und um einen Schlussstrich. Walter ist von den Grünen beauftragt worden, den Einfluss zu untersuchen, den Pädokriminelle bis Ende der achtziger Jahre auf die Partei hatten.

Der prominente Wissenschaftler soll eine Debatte beenden, die sie selbst nicht in den Griff bekommen, und die den Wahlkampf massiv zu belasten droht. Eigentlich wollten die Grünen bis zur Bundestagswahl am 22. September für soziale Gerechtigkeit werben. "Deutschland ist erneuerbar", das war ihr Slogan. Doch die Schlagzeilen sehen momentan anders aus - egal, auf welcher Seite des politischen Spektrums.

"Grüne lassen die Hosen runter", schreibt die taz zum Aufklärungs-Bestreben und zeigt die Parteivorsitzende Claudia Roth mit einer Lupe vor dem Auge. "Wie viel Sympathie für Kindesmissbrauch lebt noch bei den Grünen?", fragt Focus-Herausgeber Helmut Markwort. Der Handelsblatt-Kolumnist Wolfram Weimer sieht die "Leitfiguren der Partei schwer beschädigt". Sinkende Umfragewerte deuten Weimers Meinung nach darauf hin, dass sich die Wähler von den Grünen emotional distanzierten.

Der Pädophilie-Vorwurf ist für die Grünen wie ein Zombie, ein Untoter, der zum vielleicht ungünstigsten Zeitpunkt wieder an die Tür der Parteizentrale klopft.

Pädophilie-Vorwürfe gegen die Grünen
:Tabu und Toleranz

Daniel Cohn-Bendit bereut, was er 1975 geschrieben hat. Seine Äußerungen über die erotischen Signale von Kindern verfolgen den Grünen-Politiker bis heute. Man muss sie jedoch vor dem Hintergrund der kruden Pädophilie-Debatte in den 70ern sehen - nicht nur in seiner Partei.

Von Matthias Drobinski

Gefährliche Diskussion in Zeiten des Wahlkampfs

Dass Pädophile Einfluss bei den Grünen hatten, ist seit langem unumstritten. In der Arbeitsgruppe "SchwuP" redeten Männer, die Sex mit Kindern suchten, den Schwulen und dem Rest der Partei ein, sie verfolgten ein gemeinsames Ziel: sexuelle Toleranz. ( Mehr dazu in diesem SZ-Artikel.) Die Grünen haben das zu lange hingenommen, in einigen Fällen sogar mit dem Tabu kokettiert, das geben sie zu. Der Europapolitiker Daniel Cohn-Bendit war so ein Fall, er hatte in seinem Buch Der große Bazar von 1975 entsprechende Fantasien geäußert. Ein Fehler, wie er seit langem beteuert.

Schon 2001 nannte er seine damaligen Äußerungen "widerlich" - damals kam das Thema in Frankreich auf. Zwölf Jahre später hat es anlässlich der Verleihung des Theodor-Heuss-Preises an Cohn-Bendit den Weg zurück in die deutschen Medien gefunden. Der zweite grüne Spitzenpolitiker, der in diesem Zusammenhang genannt wird, ist der Parlamentarische Geschäftsführer Volker Beck. Er hatte 1988 die "teilweise Entkriminalisierung" der Pädosexualität gefordert, sich von dem entsprechenden Text aber später wiederholt distanziert und ihn als vom Herausgeber , dem Soziologen Joachim S. Hohmann, verfälscht dargestellt. Dennoch forderte CSU-Generalsekretär Alexander Dobrindt vor wenigen Tagen Becks Rücktritt.

Der Spiegel hat - auch vor dem Hintergrund der inzwischen bekannt gewordenen Missbrauchsfälle an der Odenwaldschule - neue Details aus der dunklen Vergangenheit der Grünen zutage gefördert. Ansonsten sind die Debattenbeiträge von 2001 und 2013 beinahe austauschbar. Nach den üblichen Mechanismen des Polit-Betriebs müsste die Diskussion längst wieder verebbt sein, egal ob relevant oder nicht. Aufgewärmtes hält sich nicht lange.

Kaum ein anderer Vorwurf ist so mächtig

Doch wenn es um sexuelle Straftaten geht, oder in diesem Fall um deren Entkriminalisierung, greift dieser Mechanismus nicht. Der Vorwurf lässt sich nicht aussitzen oder verdrängen wie eine Schwarzgeld-Affäre oder der Streit um das Tempolimit. Kaum ein anderer Vorwurf ist so mächtig, diskreditiert den Beschuldigten so stark.

Anlässlich der Verleihung des Heuss-Preises an Cohn-Bendit sagte der baden-württembergische Fraktionschef Peter Hauck: "Kindesmissbrauch ist kein Kavaliersdelikt." Hier zeigt sich die ganze Sprengkraft des Vorwurfs. Niemand kann Hauck widersprechen, jedes Wort der Relativierung bleibt im Halse stecken, auch wenn Cohn-Bendit - nach allem, was bekannt ist - kein Kinderschänder ist.

Die Grünen haben die Debatte erst laufen lassen, dann Katrin Göring-Eckardt vorgeschickt, ihre Spitzenkandidatin, die als einstige DDR-Bürgerin erst nach dem Ende der "SchwuP" zu der Partei stieß. "Damals sind offenkundig Grenzen überschritten worden", sagte sie der Welt. "Es war ein Fehler, solchen Debatten und Gruppen Raum in der Partei zu geben. Ein Fehler, den wir bedauern."

Womöglich keine Ergebnisse vor der Wahl

Den Kritikern reicht das nicht. "Wirkliche Aufarbeitung sieht anders aus", beurteilte Erika Steinbach das Interview der grünen Spitzenkandidatin. Deshalb setzen die Grünen jetzt auf Franz Walter und sein Göttinger Institut. Der hat sich bis 2014 Zeit erbeten, strebt aber "einen tragfähigen Zwischenbericht an, da nicht unterstellt werden möge, dass ein politisch derzeit brisantes Thema lediglich verschleppt und durch Delegation in den akademischen Binnenraum gleichsam entsorgt werden soll."

Unklar ist, wann besagter Zwischenbericht erscheint. Noch vor der Bundestagswahl im September? Diesen Termin nannte die taz, doch die Uni Göttingen widerspricht auf SZ-Anfrage: "Wir peilen das Ende des Jahres an, aber es wäre unseriös, jetzt schon eine genaue Angabe zu machen." Den Grünen wäre es vermutlich recht, wenn das Thema vor dem Wahltermin nicht noch einmal hochkocht. Die Kritiker lassen sich so aber wahrscheinlich nicht besänftigen.

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