Pädophilie-Vorwürfe gegen die Grünen:Tabu und Toleranz

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"Unerträglich": Daniel Cohn-Bendit über seine Äußerungen zu Sexualität und Kindern. (Foto: Marijan Murat/dpa)

Daniel Cohn-Bendit bereut, was er 1975 geschrieben hat. Seine Äußerungen über die erotischen Signale von Kindern verfolgen den Grünen-Politiker bis heute. Man muss sie jedoch vor dem Hintergrund der kruden Pädophilie-Debatte in den 70ern sehen - nicht nur in seiner Partei.

Von Matthias Drobinski

Den Kindern haben sie Kapuzenmasken übergezogen, rote und weiße, irgendwo zwischen den sieben Zwergen und dem Ku-Klux-Klan; die Erwachsenen tragen Stirnbänder und lange Haare und den Blick derer, die die Wahrheit an ihrer Seite wähnen. Sie stürmen die Bühne und erobern das Mikrofon; "Sex mit Paps ist schön", kreischen die Kinder in den Saal; die Erwachsenen beschimpfen Andersdenkende als Nazis und klatschen Senf auf ein junges Paar, das Widerworte gibt.

Es ist der 31. März 1985, vielleicht 30 "Stadtindianer" sind aus Nürnberg nach Bad Godesberg gereist, wo die nordrhein-westfälischen Grünen auf einem Sonderparteitag ihr Landtagswahlprogramm revidieren, das sie erst zwei Wochen zuvor verabschiedet haben.

Die "Stadtindianer", die da mit der ihr eigenen Militanz auftreten, propagieren das Recht auf "freie Liebe" zwischen Kindern und Erwachsenen - und leben sie auch: Ihr "Oberindianer" Uli Reschke ist 1981 wegen sexueller Gewalt gegen Kinder verhaftet worden. Sie sehen den größten politischen Erfolg ihrer Bewegung bedroht. In Lüdenscheid haben vor zwei Wochen die Grünen im größten Bundesland die Forderung der Bundesarbeitsgemeinschaft "Schwule, Päderasten und Transsexuelle" ("SchwuP") in ihr Wahlprogramm aufgenommen: "Einvernehmlicher" Sex zwischen Erwachsenen und Kindern solle nicht mehr unter Strafe gestellt werden; dieser Sex sei "für beide Teile angenehm, produktiv, entwicklungsfördernd".

Auch schon in Lüdenscheid haben die Stadtindianer unerträglichen Druck gemacht, viele Delegierte sind erschöpft von den entnervenden Debatten und wollen nicht als intolerant dastehen, so stimmen sie der Forderung der Gruppe zu, die in falscher Solidarität Schwule und Päderasten vereint. Erst als der Sturm der Entrüstung losbricht, merken die Grünen, was sie da angerichtet haben. Ein Sonderparteitag schwächt die Passagen ab. "Wir wollen euch nicht hören!" rufen viele Delegierte, als die Stadtindianer das Mikrofon erobern. Auf die Idee aber, dass die Truppe da vorne ein Fall für Polizei und Jugendamt wäre, kommt offenbar niemand.

Mehr als eine spätpubertäre Provokation

Nein, die Grünen waren kein Hort der sexuellen Gewalt gegen Kinder - und doch förderte und finanzierte die Partei über mehrere Jahre hinweg jene Arbeitsgruppe "SchwuP", in der Männer, die Sex mit Kindern suchten, den Schwulen und dem Rest der Partei einreden konnten, sie hätten ein gemeinsames Ziel: die sexuelle Toleranz.

Keines der ehemaligen Kindergartenkinder bezichtigt den Europaabgeordneten Daniel Cohn-Bendit, ihm sexuelle Gewalt angetan zu haben, und doch sind die Passagen aus den 1975 veröffentlichten Erinnerungen des Vordenkers der 68er-Bewegung über Kinder, die intim streicheln und gestreichelt werden wollen, mehr als eine spätpubertäre Provokation.

Sie sind Belege einer Geisteshaltung, die es Gerold Becker an der Odenwaldschule möglich machte, sexuelle Gewalt gegen Kinder und Jugendliche zu leben und zu vertuschen, vermutlich auch Klaus Kinski, dem allmachtbesessenen Schauspieler. Und so, wie die katholische Kirche dem eigenen katholischen Geschmack der sexuellen Gewalt gegen Abhängige auf die Spur kommen muss, so müssen die Linken dem eigenen Geschmack des Missbrauchs auf die Spur kommen: die Reformpädagogik und die Kinderladenbewegung , die Szene-Medien von einst, die Grünen, die damals pubertierten zwischen Linksradikalismus und Blut- und Boden-Ökologie.

Das Pubertierende erklärt einiges, entschuldigt aber nichts. Die totale Tabuisierung der Sexualität, zum Beispiel in der katholischen Kirche, war der eine Nährboden der sexuellen Gewalt. Der andere aber war die totale Enttabuisierung der Sexualität. Sie war nicht nur befreiend, sie war auch der Vorwand für neuen Machtmissbrauch.

Die Wurzel des linken Verdrängens und Leugnens sexueller Gewalt gegen Kinder und Jugendliche reicht bis ins Jahr 1897 zurück. "Teurer Wilhelm!", schreibt Sigmund Freud am 21. September an Wilhelm Fließ und vertraut ihm "das Große Geheimnis" an, "das mir in den letzten Monaten langsam gedämmert hat": die Geschichten über sexuelle Gewalt, die ihm seine Patientinnen erzählt haben, hält Freud nicht mehr für echt, sondern für Produkte des Unbewussten, der Aggressions- und Begehrensfantasien gegen Vater und Mutter, des Ödipuskomplexes.

Es ist eine radikale Wende. 17 Monate zuvor hat Freud vor seinen Kollegen im Verein für Psychiatrie und Neurologie in Wien noch die Ansicht vertreten, dass Neurosen durch "infantile Sexualszenen" entstehen, durch sexuelle Traumata also, deren Wunden die Kinder ins spätere Leben tragen. Die Kollegen hätten eisig reagiert, berichtet Freud. Dass die Folgen sexueller Gewalt erst viele Jahre später sichtbar werden und die Betroffenen davon nur erzählen, wenn sie einen ermutigenden Zuhörer finden - das ist den anwesenden Herren unvorstellbar. Sie misstrauen fortan diesem merkwürdigen Freud.

Erst als der 1905 seine "Verführungstheorie" offiziell widerruft, ist der Weg frei für den großen Durchbruch. Die Sexualität und das Unterbewusste bestimmen das Leben des Menschen, und wer sich selber erkennen und von Zwängen befreien will, muss sich dem stellen - das ist Sigmund Freuds bahnbrechende These. Doch sie verdrängt den Gedanken, dass auch wahr sein kann, was da gesagt wird. "Das bildest du dir nur ein" - mit diesem Satz bleiben Missbrauchsopfer bis in die Neunzigerjahre hinein allein.

Wilhelm Reich, der eigenwillige Freud-Jünger und antistalinistische Marxist, vertritt in den Dreißigerjahren die These, dass Triebunterdrückung, autoritärer Charakter und faschistische Diktatur zusammengehören, dass es also ohne sexuelle Befreiung keine freie und gleichberechtigte Gesellschaft geben kann. Reich flieht vor den Nazis in die USA, in Deutschland ist er nahezu vergessen, bis die Studentenbewegung ihn entdeckt: Die sexuelle und die politische Revolution gehören zusammen.

Sollen wir nun die Kinder zusehen lassen, wenn wir miteinander schlafen?

Sex ist politisch und damit nicht mehr intim, sondern öffentlich. Hat nicht tatsächlich die NS-Ideologie das Bild des asexuellen Kriegers gezeichnet, der zeugt, sich aber nicht der Lust hingibt? Passt nicht die sexuelle Verklemmung der Fünfziger zur politischen Doppelmoral einer Zeit, in der alte Nazigrößen wieder Karriere machten? Das Foto der nackten Hintern der Kommune-1-Bewohner wird zur bildgewordenen Reich-Rezeption. Und rechts an der Wand steht ein Kind und schaut sich interessiert die Erwachsenen von vorne an.

Die sexuelle Revolution, die Veränderung der Beziehungs- und Familienstrukturen, ist die wahre Umwälzung dieser Zeit; sie wirkt viel tiefer als alle Vietnam-Demos und "Enteignet Springer"-Kampagnen. Auch ziemlich bürgerliche Menschen reden auf einmal über Sex; Homosexualität und Liebe zwischen Menschen unter 21 wird straffrei, es gibt ein neues Scheidungsrecht. Aufgeklärt soll die Gesellschaft werden, und das fängt bei den Kindern an, da sind sich Pädagogen und Psychologen einig. Und Eltern, die sich bis dahin selber kaum nackt gesehen haben, fragen: Sollen wir nun die Kinder zusehen lassen, wenn wir miteinander schlafen?

Es kommt die Zeit der Aufklärungsbücher. "Zeig mal" heißt das berühmteste; es erscheint 1974 im Wuppertaler Jugenddienst-Verlag, der der evangelischen Kirche nahesteht. Man sieht einen nackten Jungen und ein nacktes Mädchen, viel Zärtlichkeit und auch einen erigierten Kinderpenis. Alles ist wunderbar ästhetisch fotografiert von Will McBride, der für die Bilder mehrere Preise erhält. Es gibt erbitterte Gegner, das Buch aber etabliert sich in der Mitte der Gesellschaft, die evangelische Kirche empfiehlt es genauso wie Pro Familia und die Gewerkschaft der Polizei.

Schaut man sich die Bilder heute an, wird einem blümerant, weil die Fotos nicht nur von der erwachenden und eigenen Sexualität von Kindern erzählen, sondern ahnen lassen, dass sich das Buch auch gut zur Befriedigung von Erwachsenenfantasien eignet - und man nicht unbedingt wissen will, wer alles die Liebhaberpreise von 100 und mehr Euro zahlt, zu denen heute "Zeig mal!" im Internet angeboten wird.

Wenn aber Kinder so fröhlich ihre eigene Sexualität ausleben - warum können sie dann keine sexuellen Beziehungen zu Erwachsenen haben? Es sind nicht nur die Päderastengruppen, die nun öffentlich diese Frage stellen. Sie sehen hinter dem Verbot der Pädosexualität ein gesellschaftliches und kulturelles Phänomen und wollen deshalb den Paragrafen 176 des Strafgesetzbuchs abschaffen, der sexuelle Handlungen an Kindern und durch Kinder unter Strafe stellt. Szeneblätter wie konkret, die Berliner zitty und die taz drucken Beiträge, die Sex mit Kindern propagieren, mal um der Provokation willen oder in falsch verstandener Solidarität mit allen, die Ärger mit dem Staat haben, manchmal ein wenig angewidert, manchmal aber vielleicht auch aus eigener Nähe.

Anja Röhl, eine der drei Töchter des konkret-Gründers Klaus Rainer Röhl, bezichtigt ihren Vater, sie als Kind sexuell missbraucht zu haben; er bestreitet das. In der taz schreibt Oliver Stüben im November 1979 über einen Jungen, der seinen "Panzer geknackt" habe, über Eltern, die es gar nicht so schlimm fänden, wenn er mit ihren Jungs in Urlaub fährt, und darüber, dass bei ihm Kinder "handelndes Subjekt" sein sollen.

Auch Wissenschaftler springen solchen Autoren bei. In der Fachzeitschrift betrifft: erziehung nennt der Hamburger Sexualforscher Eberhard Schorsch 1973 die Pädophilie ein "Verbrechen ohne Opfer": Für die Kinder ist einvernehmlicher Sex mit Erwachsenen nicht schlimm. Wenn jemand zum Staatsanwalt rennt, dann die verknöcherten Eltern.

Wie lange sich diese Auffassung hält, zeigt der Aufsatz in der linken Juristen-Zeitschrift kritische justiz, den der Bremer Strafrechtler Lorenz Böllinger 1986 nach dem "Kindersex-Skandal" der nordrhein-westfälischen Grünen schreibt. Böllinger geht hart mit der Position der "SchwuP" ins Gericht: Es kann keine gleichberechtigte sexuelle Beziehung zwischen Erwachsenen und Kindern geben, schreibt er. "Die Forschung" allerdings habe auch ergeben, "dass gewaltlosen sexuellen Handlungen von Erwachsenen mit Kindern ein hohes Konfliktpotenzial regelmäßig nicht innewohnt"; die Opfer das Erlebte meist gut verarbeiteten, und deshalb das Papier der Grünen zwar Unausgegorenes, aber "nichts Monströses" enthalte.

Grüne wollen Parteienforscher engagieren

Da haben Feministinnen wie Alice Schwarzer die Vorstellung vom gewaltfreien Sex mit Kindern schon längst als narzisstisches Hirngespinst von Männern enttarnt. Da ist in Selbsthilfegruppen und Abertausende Therapiestunden klar geworden, wie lange es dauern kann, bis Missbrauchsopfer reden, dass dieser Missbrauch lebenslange Traumatisierungen zur Folge hat. Da kommt aus den Vereinigten Staaten die Erkenntnis, dass Pädophilie nicht therapierbar ist. Und es wächst die Einsicht, dass nicht nur fixierte Pädophile Kindern sexuelle Gewalt antun, sondern dass es schrecklich viele andere Gründe gibt, um das Machtgefälle zwischen Erwachsenen und Kindern auszunutzen.

1987 löst sich die Arbeitsgemeinschaft der Schwulen und Pädosexuellen auf; der kurzfristige Erfolg von Lüdenscheid hat zur endgültigen Trennung geführt. Die Begründungsmuster der Pädophilen sind seitdem aus dem öffentlichen Diskurs verschwunden, aber sie haben im Verborgenen weitergelebt, nicht nur in der Odenwaldschule. Noch heute sagen Männer, werden sie der sexuellen Gewalt angeklagt, dem Richter: Ich wollte das Kind doch nur in die Sexualität einführen.

Daniel Cohn-Bendit bereut, was er 1975 geschrieben hat, wobei es vielleicht besser wäre, er würde genauer über die Motive Auskunft geben, die ihn damals trieben, dies zu schreiben. Die taz arbeitet seit drei Jahren sehr selbstkritisch ihre Geschichte auf, die Grünen wollen jetzt einen Parteienforscher an die eigene Geschichte setzen, bevor andere der Partei das Archivmaterial um die Ohren schlagen. Das ist gut, das sind wichtige erste Schritte; es gilt, das Unrecht aufzuarbeiten, das letztlich eine ganze Gesellschaft den Opfern sexueller Gewalt angetan hat, indem sie das Leid nicht wahrnahm oder kleinredete; die Journalisten übrigens eingeschlossen.

Ende April hat Micha Brumlik, der Frankfurter Erziehungswissenschaftler, eine bemerkenswert mutige und selbstkritische Rede gehalten, in Berlin, auf Einladung des Missbrauchsbeauftragten der Bundesregierung, Johannes-Wilhelm Rörig, vor zahlreichen Missbrauchsopfern. Ja, hat er bekannt, wir Erziehungswissenschaftler haben verdrängt. Einmal sei er bei einem Kollegen eingeladen gewesen, da hätten lauter Fotos nackter und halb nackter Knaben an der Wand gehangen. Es sei ihm unangenehm und peinlich gewesen - und vor lauter Peinlichkeit und Scham hätte er nicht nachgefragt. Die Zeit der fraglosen Scham sollte nun vorbei sein.

© SZ vom 25.05.2013 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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