Mit gerade mal zwölf Jahren wollte Ilko-Sascha Kowalczuk in der DDR Offizier der Nationalen Volksarmee werden. Als er seine Entscheidung später revidierte, wurde sein Leben in der DDR zur Hölle. Heute spielt der Historiker und Projektleiter der Stasi-Unterlagenbehörde eine wichtige Rolle in der Debatte um die DDR-Vergangenheit des Berliner Staatssekretärs Andrej Holm. Während einer Podiumsdiskussion warf er dem anwesenden Holm fragwürdige Erinnerungslücken vor.
SZ: Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller hat am Samstag die Entlassung von Staatssekretär Holm verfügt. Eine gute Entscheidung?
Ilko-Sascha Kowalczuk: Die Entlassung von Staatssekretär Holm durch die Landesregierung war absehbar. Sonst wird die Skandalisierung dieses Falls nie aufhören. Für die Aufarbeitung der DDR-Geschichte wäre es hingegen gut gewesen, er wäre im Amt geblieben. Wer mit Geschichte ehrlich umgehen will, muss anerkennen, dass sie voller Widersprüche steckt, sie verläuft fast nie so, wie es uns in den Kram passt. Das muss eine offene Gesellschaft aushalten, solange es nicht um Verbrechen geht. Und Holm ist kein Verbrecher. Er steht stellvertretend für die widersprüchlichen Biografien vieler, natürlich längst nicht aller, Ostdeutscher.
Die Debatte um Holms Stasi-Vergangenheit hat Berlin gespalten. Welche Seiten stehen sich gegenüber?
Das Pro-Holm-Lager ist der Meinung, Holms Biografie bis 1989 dürfe keine Rolle mehr spielen, weil das alles viel zu lange zurückliegt. Ihrer Meinung nach sollte dessen Wohnungspolitik im Mittelpunkt stehen. Auf der anderen Seite befinden sich mehrere Gruppen, politische Gegner aber auch diejenigen, die davon überzeugt sind: Einmal Stasi immer Stasi. Das eigentliche Problem in diesem Fall besteht aber darin, wie Holm mit seiner Vergangenheit umgegangen ist. Nämlich nicht besonders clever.
Holm war lange Zeit wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Humboldt-Universität. In einem Fragebogen musste er 2005 Angaben zu seiner DDR-Vergangenheit machen. Er verneinte eine Mitarbeit bei der Stasi.
Holm ist am 1. September 1989 Offiziersschüler der Stasi geworden. Die Abteilung, in der er gearbeitet hat, war auch für die Verfolgung Oppositioneller zuständig und hat besonders im Herbst 1989 eine wichtige Rolle gespielt, als die Revolution anrollte. Angesichts der angespannten Lage haben die Stasi-Mitarbeiter Zwölf-Stunden-Schichten geschoben, waren unentwegt in operativen Einsätzen unterwegs, beispielsweise bei Demonstrationen und Veranstaltungen. Andrej Holm sagt nicht, was konkret seine Aufgaben gewesen sind. Er gibt lediglich Routinearbeiten an, die ihm für die letzte Phase der Stasi sicher nicht mal seine früheren Genossen abnehmen.
Hat er jemandem geschadet?
Ich glaube zwar nicht, dass Holm in dieser kurzen Zeit als noch ziemlich unbedeutendes Rädchen im großen Getriebe überhaupt irgendetwas von Belang machen konnte, außer zu beobachten und darüber zu berichten, was ohnehin jeder sah und hörte, mindestens via Westmedien. Aber die Frage ist schwer zu beantworten, weil die Systeme von Geheimpolizeien perfide strukturiert sind. Eine harmlose Information meinerseits, die ich arglos weitergebe, kann in einem anderen Kontext erhebliche Auswirkungen haben.
In einem Vortrag beschreiben Sie Holm als Opfer. Warum?
Er ist in einem System aufgewachsen, das von ihm als Kind verlangt hat, lebensbestimmende Entscheidungen zu treffen. Also ist Andrej Holm auch ein Opfer des SED-Regimes, der Umstände, seiner Eltern. Für mich ist das keine Frage. Sein Eintritt in das MfS 1989 ist dann keine Opferhandlung mehr, sondern hier agiert er als Akteur, ganz klar.
Was ist über die Familie von Holm bekannt?
Sein Urgroßvater gehörte zur Elite der Kommunistischen Partei Deutschlands und war mit verantwortlich für das Druck- und Verlagswesen. 1943 wurde er in Oslo verhaftet und kam ins KZ Sachsenhausen. Nach dem Krieg versuchte er, in der sowjetischen Besatzungszone Karriere zu machen. Zwischendurch wurde er aus der SED ausgeschlossen - später aber wieder rehabilitiert. Die Stasi hat ihn intensiv überwacht. Andrej Holms Vater hat dann wiederum Karriere bei der Staatssicherheit gemacht.
In welchem Umfeld ist Holm aufgewachsen?
Andrej Holm ist im Glauben an den Sozialismus und den Antifaschismus groß geworden. Daran, dass die DDR der beste Ausweg aus der deutschen Misere sei - auch wenn nicht alles perfekt ist. Man darf nicht vergessen, dass die Stasi aus den Familien ihrer Mitarbeiter heraus gezielt den Nachwuchs rekrutiert hat. Das erklärt auch, warum Andrej Holm so früh diesen Weg einschlug - und leider nicht raus kam.
Sie selbst haben eine ähnliche Biografie wie Holm. Ihr Vater war Kommunist, Sie entschieden sich sogar schon mit zwölf Jahren dafür, Offizier in der Nationalen Volksarmee zu werden. Doch Sie haben Ihre Entscheidung revidiert. Warum?
Als ich 14 Jahre alt war, konnte ich mir nicht mehr vorstellen, Befehle befolgen zu müssen. Gleichzeitig wollte ich nicht mit kurzen Haaren rumlaufen oder auf Westfernsehen und Westmusik verzichten. Meine Freunde und ich, wir sind in Berlin groß geworden, wir lebten mit unserem Kopf und unserem Körper immer zur Hälfte in West-Berlin. Irgendwann fand ich den Mut, Nein zu sagen. Es hat mich sehr, sehr viel Kraft gekostet.