Ungarn-Aufstand 1956:Der Hund des Anstoßes - Wie die DDR Kabarett bestrafte

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Auch Walter Ulbricht beschäftigte sich mit den Scherzen der Jenaer Studenten. (Foto: dpa/DPA)

Als Sowjettruppen den Ungarn-Aufstand niederschlagen, wagen Studenten in Jena einen brisanten Spaß, der sogar Staatschef Ulbricht beschäftigt. Das Regime reagiert spät, aber drastisch.

Von Barbara Galaktionow

Im Jahr 1956 ist der Ostblock in Aufruhr. Unerwartet distanziert sich Kremlchef Nikita Chruschtschow von seinem verstorbenem Vorgänger Josef Stalin. Bei Gegnern des rigiden Sowjet-Kommunismus nährt das Hoffnungen auf einen Umbruch, auf Reformen und Freiheit. Ein Arbeiter-Aufstand in Polen im Sommer wird zwar blutig niedergeschlagen; immerhin versuchen die Mächtigen die Lage zu befrieden, indem sie den gemäßigten Wladislaw Gomulka als Generalsekretär der Kommunistischen Partei Polens installieren.

Ganz anders in Ungarn: Die von Studentenprotesten ausgelöste Erhebung walzen Panzer der Sowjetarmee Anfang November nieder. Es ist ein Vorgehen, das Menschen auf der ganzen Welt, aber vor allem in den sogenannten "Bruderstaaten" der UdSSR erschüttert.

Auch Studenten in der DDR blicken damals erregt und beunruhigt auf die Entwicklungen in ihren Nachbarländern. Bei einer Vollversammlung der Fachschaft Mathematik an der Uni Jena am 5. November, also einen Tag nach dem Einmarsch sowjetischer Truppen in Ungarn, geben sie ihrer Unzufriedenheit Ausdruck. 122 von 124 Anwesenden verabschieden eine Resolution, in der die Abschaffung des obligatorischen Russisch-Unterrichts gefordert wurde sowie - "aus Gewissensgründen" - der gesellschaftswissenschaftlichen Prüfungen verlangt wird, also der sozialistischen Staatslehre. Es ist kein offener Aufstand, aber doch ein Zeichen des Protests.

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"Abgesehen von wenigen Naiven wussten alle, worum es bei den Resolutionen eigentlich ging, jedenfalls am wenigsten um den Russischunterricht", sagt heute Peter Herrmann, der damals in Jena Physik studiert und an den widerständigen Aktivitäten maßgeblichen Anteil hat.

Herrmann ist auch Mitinitiator einer Aktion am 30. November 1956, die für mehrere Beteiligte im Gefängnis oder im Exil endet: der Ausrichtung des Physikerballs an der Universität Jena. Bei dem jährlich stattfindenden Ereignis nehmen Physik- und Mathematik-Studenten in einem Kabarettprogramm traditionell das Geschehen an der Friedrich-Schiller-Universität auf die Schippe. Im Jahr 1956 gehen die Studierenden allerdings sehr viel weiter. In ihrer Aufführung üben sie recht unverhohlene Kritik am SED-Regime, dem staatlich verordneten Marxismus-Leninismus und an den brutalen Ereignissen in Ungarn drei Wochen zuvor.

In der aufgeheizten Situation des Jahres 1956 schlägt das universitäre Kabarettprogramm hohe Wellen. "Der Physikerball spielte eine wichtige Rolle, weil er die Stimmung einer breiten Öffentlichkeit wiedergab", sagt der Historiker Patrik von Zur Mühlen.

Maulkorb? Nein, reiner Schutz!

Besonderes Aufsehen erregt eine Szene, die später in offiziellen Dokumenten als "Ungarnszene" geführt wurde - und das, obwohl das Land darin an keiner Stelle Erwähnung findet. In der Szene begegnet ein Jäger, der seinen Hund namens Sultan an der kurzen Leine führt, einem Wanderer im Wald. Der Wanderer stellt dem Jäger kritische Fragen zu seinem Verhältnis zum Hund - worauf dieser sich rechtfertigt.

Die Hundeleine sei gar keine, sondern "der Freundschaft Band, das uns verbindet" - ein damals geläufiger Terminus, mit der die Zwangsbeziehungen zwischen der Sowjetunion und den anderen osteuropäischen Staaten beschönigend umschrieben wurden. Und der Maulkorb sei dem Hund Sultan nicht etwa aufgezwungen worden, sondern er trage ihn zum Schutz vor Wespenstichen. Als der Hund sich plötzlich befreit und wegrennt, schießt der Jäger auf den Hund - der kommt verletzt zurückgekrochen, wird geschlagen und sofort wieder an die Leine gelegt. Der Jäger behauptet, nicht er habe Sultan verletzt, sondern dieser sei durch einen Wespenstich aufgestachelt worden und habe sich beim Wegrennen verletzt. "Wegen der Stiche von den Tieren muss ich meinen Hund kurieren, während böse Zungen sagen, ich würde meinen Sultan schlagen", behauptet der Jäger.

Den Zuschauern, die diese Szene damals sehen, ist sofort klar, dass es hier um den Einmarsch sowjetischer Truppen in Ungarn von Anfang November geht. Dass hier das brutale Vorgehen und scheinheilige Gerede der Sowjetführung vorgeführt wird. "Wir haben auf ziemlich deutliche Weise das System angegriffen", sagt Herrmann.

Deutlich werden die Studenten auch, was die Führung im eigenen Land betrifft. In einem Sketch verulken sie die Schein-Wahlen in der DDR mit ihren Einheitslisten: Erst wirft ein Wähler seinen Wahlzettel in die Urne, unbesehen, danach wirft ein Roboter gleich mehrere Zettel ein, und am geht sogar ein Hund zum Wählen. In einer an Goethes Faust angelehnten Szene hadert ein Philosoph, der die marxistisch-leninistische Parteilinie vertritt, damit, wie er diese allen offensichtlichen Widersprüchen zwischen Lehre und Realität zum Trotz weiter vertreten kann. In seiner Verzweiflung ruft er Mephisto um Rat an. Die Szene kritisiert in aller Deutlichkeit die Volten der SED-Führung. Ein riskanter Spaß.

Akteure und Unterstützer des Physikerballs von 1956 60 Jahre später bei der Einweihung einer Gedenkstele in Jena (von links): Dr. Walter Träger, Prof. Claudio Hofmann, Dr. Heinz Steudel, Peter Herrmann und Freya Rohmann. (Foto: Uni Jena)

Peter Herrmann, der die Szene geschrieben hat und den Philosophen auch selbst spielt, ist sich seinerzeit der Brisanz bewusst. "Ich wusste, dass wir zu weit gingen", sagt er. Und er hat wirklich Angst, diese Szene zu spielen, am Ende zittert er. Aber er zieht es durch, weil er einfach mitgerissen ist von der Stimmung der Zeit, sagt er heute.

Gelassener empfindet das Ganze damals Heinz Steudel, der die Ungarnszene verfasst hat. "Dass wir da etwas Außergewöhnliches machen, war mir schon bewusst", erzählt er. "Und beinahe wären wir ja ungeschoren davongekommen."

Erstaunliche Reaktion der SED

Die Reaktionen auf die Aufführung sind außergewöhnlich stark. Das Publikum applaudiert stürmisch. Der Physikerball wird zum Stadtgespräch in Jena, auch in den umliegenden Städten Halle und Leipzig sei darüber diskutiert worden, sagt Historiker Von Zur Mühlen. Peter Herrmann beschreibt die Stimmung nach der Aufführung: "Alle haben wir gedacht: Jetzt ändert sich was."

Diese Befürchtung treibt auch offizielle Stellen um - und sie reagieren schnell. Parteiorganisationen der Universität verfassen umgehend Resolutionen gegen die Aufführung. Vor allem die Ungarnszene, auch "Jägerszene" genannt, wird als sozialismusfeindlich .gebrandmarkt

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Die Juristische Fakultät fordert im Rahmen einer Unterschriftensammlung die Bestrafung der Verantwortlichen des Balles. Auch der Akademische Senat diskutiert mehrfach über die Vorfälle. Der Physikerball findet selbst in der fernen Hauptstadt Berlin Beachtung. Im Politbüro der SED in Berlin steht das Thema damals auf der Tagesordnung, sagt Historiker Von Zur Mühlen. Staatschef Walter Ulbricht persönlich leitet die Sitzung.

Etwas Erstaunliches passiert: Die Parteiführung beschließt mehr oder weniger nichts und verbarg das hinter "relativ substanzlosen Beschlüssen", so Von Zur Mühlen. "Dabei hatte sie in der Vergangenheit schon auf sehr viel unwichtigere Aktionen sehr viel deutlicher reagiert." Als Grund vermuten Von Zur Mühlen wie auch Herrmann, dass die DDR-Führung damals den Unmut in der Bevölkerung nicht durch Prozesse gegen Studenten befeuern will.

Die Aufführung bleibt folgenlos. Bis zum Februar 1958. Da holt der Physikerball die Beteiligten wieder ein.

Zu Beginn des Jahres 1958 fliegt durch einen Spitzel der sogenannte "Eisenberger Kreis" auf, eine von Studenten und anderen jungen Erwachsenen getragene Widerstandsgruppe. Von Zur Mühlen zufolge gehen die Regimegegner relativ planvoll vor. Ihre Mitglieder malen unter anderem "staatsfeindliche" Parolen an Wände oder auch mal an einen Zug.

Sie ändern den Namen eines Schiffes auf dem Stausee im Oberen Saaltal von "J. W. Stalin" in "Bayern" - weil ein gleichartiges, zweites Schiff ja "Thüringen" heißt. Und sie konzipieren ein kritisches Flugblatt, das an die Professoren der mitteldeutschen Universitäten verschickt werden soll. Ein Unternehmen, das nur deswegen scheitert, weil aufgrund der schlechten Ausrüstung Fingerabdrücke auf den Flugblättern zu sehen sind.

Verurteilt wegen "Staatsverrat"

Ein Mitglied der Gruppierung war Peter Herrmann. Und offenbar wegen dieser Verbindung nutzen die Ermittler die Gelegenheit, mit dem Eisenberger Kreis zugleich auch den Physikerball neu aufzurollen. Hermann ist einer der ersten, die im Februar 1958 eingesperrt wird. Die Verhaftungswelle zieht sich bis in den April hinein.

Einige der Akteure des Physikerballs nutzen die Gelegenheit und setzen sich gerade noch rechtzeitig gen Westen an. So flüchtet Justinus Walter, der in der Ungarnszene den Jäger gespielt hat, über Berlin in die Bundesrepublik. "Mir wird der Boden zu heiß. Ich haue ab", sagt er zum Schreiber der Szene, Heinz Steudel, wie dieser berichtet. Steudel selbst hingegen erscheint es damals "doch etwas abwegig", das er nach mehr als einem Jahr nun plötzlich doch noch wegen seiner Beteiligung am Physikerball verfolgt werden soll.

Doch genau so passiert es. In der gesamten Affäre rund um den Eisenberger Kreis und den Physikerball kommt es in den folgenden Monaten zu insgesamt vier Prozessen mit insgesamt 24 Angeklagten. Heinz Steudel wird - ebenso wie der "Mephisto"-Darsteller Heinz Vollmer - allein aufgrund seiner Beteiligung am Physikerball zu einer "Zuchthausstrafe" von eineinhalb Jahren verurteilt. "Staatsgefährdende Hetze", heißt es im Urteil.

Das Urteil gegen Peter Herrmann, der im Eisenberger Kreis aktiv war, fällt noch härter aus. Ihm wird "Staatsverrat" zur Last gelegt, weswegen er 14 Jahren im Zuchthaus absitzen soll. Er wird - wie auch zwei weitere Hauptverurteilte - 1964 von der Bundesrepublik freigekauft und beginnt im Westen ein neues Leben.

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Im Rückblick auf seine Widerstandsaktionen nimmt der Physikerball für Herrmann auch heute noch eine besondere Rolle ein: "Von allem, woran ich beteiligt war, war der Physikerball das Wirkungsvollste."

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