Der Minister hat sich an die Regeln gehalten, sagt der Minister. Das Gesundheitsamt hat keine Fehler gemacht, sagt das Gesundheitsamt. "Herr Spahn hat sich nicht korrekt verhalten", sagt Caren Streletzki. "Von einem Gesundheitsminister kann man erwarten, dass er nach einer Infektion auch sein privates Umfeld informiert. Das ist doch das Mindeste." Sie kämpft, und das nicht nur mit den Folgen der Krankheit.
Eine Geschichte ist das, die von Verantwortung handelt, und sie beginnt im "Ponte", einem italienischen Restaurant in Berlin-Schöneberg. Hier speist es sich fein im Holzgetäfelten, am Abend des 18. Oktober ist Bundesgesundheitsminister Jens Spahn zu Gast, mit seinem Ehemann, zwei Bekannten, Personenschützern.
Am Nebentisch sitzt Caren Streletzki, eine lebhafte Dame, Geschäftsführerin einer Firma. Die 77-Jährige lebt allein, in der Pandemie geht sie kaum raus, sagt sie, schon wegen ihres Alters. "Ich halte mich mit allem zurück." Ins "Ponte" haben Freunde sie damals eingeladen, alle um die 70. Ganz sorglos verläuft der Abend nicht.
"Wir waren nicht begeistert, dass die Kellner und der Restaurantbesitzer nur ein Plastikvisier getragen haben", sagt Georg Alexander. Beim Sprechen habe ein Kellner das Visier mal geöffnet. Alexander, früher Hauptabteilungsleiter beim ZDF, sieht nur ein kleines gekipptes Fenster. Seine Frau wird unruhig. "Sie hat den Kellner gebeten, sein Visier zu richten und sich nicht so weit runterzubeugen." Es wurde "nicht für Luft gesorgt", sagt Caren Streletzki. Der Wirt des "Ponte" sagt auf Anfrage: nichts.
Drei Tage nach dem Besuch erfährt Georg Alexander von Spahns Infektion, aus der Presse. Er sagt sofort seinen Freunden Bescheid. Einen Tag später bekommt Caren Streletzki ein positives Testergebnis. Sie hält den Restaurantbesuch für den Grund. Niemand in ihrem Umfeld sei infiziert. Belegt ist der Infektionsweg nicht.
Was dann folgt, ist ein einsamer Kampf gegen Fieber, Kopfweh, Druck auf der Brust, Husten. "Man versucht, sich nicht in Panik zu versetzen", erzählt Caren Streletzki. Zwei Wochen ringt sie mit dem Virus, die Symptome sind ernst. Aber sie schafft es noch, dem "Ponte" eine Mail zu schreiben, damit Kellner und Gäste gewarnt sind. Andere schaffen das nicht.
Wer wen angesteckt hat, bleibt unklar
Anfrage im Gesundheitsministerium. War Jens Spahn damals im "Ponte"? Hat er dem Restaurant seine Infektion mitgeteilt? Die erste Frage bejaht Spahns Sprecher, die zweite nicht. "Nach Bekanntwerden seiner Corona-Infektion wurde das Gesundheitsamt über den Besuch informiert", schreibt er. Zwei Kontaktpersonen seien "direkt informiert" und negativ getestet worden. Auch Spahns Partner wurde später als infiziert gemeldet.
Wer wen angesteckt haben könnte im "Ponte", ist nicht zu klären. Wichtiger ist, was der Minister damals tut, damit Kellner nicht weiterkellnern und Gäste anstecken. Als Antwort legt Spahns Sprecher das Anschreiben einer Mail vom 22. Oktober vor. Spahn habe dem Bezirksamt Tempelhof-Schöneberg eine "vierseitige Liste" mit Namen von Kontaktpersonen angehängt, am Ende stehe das "Ponte", wo er "unter Einhaltung der Landesverordnung für die Speisewirtschaft" gegessen habe. Und ein Anruf im Restaurant? Sei nicht vorgeschrieben, heißt es im Hause Spahn. Der Minister habe mit der Mail ans Gesundheitsamt seiner Pflicht Genüge getan.
Formal stimmt das. Aber hätte ein Minister in der Pandemie nicht allen Anlass, ein Restaurant zu kontaktieren, das er kurz zuvor besucht hat, womöglich hoch infektiös? Berlins Gesundheitsämter sind damals schon heillos überlastet, die Bundeswehr muss helfen. Von sicheren Informationswegen kann Spahn nicht ausgehen.
Aber auch das Gesundheitsamt Tempelhof-Schöneberg will den Schwarzen Peter nicht. Grundsätzlich sei die Information von Kontaktpersonen "nicht erforderlich", wenn es dort keine Hinweise auf Ansteckungen gebe, teilt Bezirksstadtrat Oliver Schworck mit. "Der positiv Geteste wird dazu befragt, ob er sich an die entsprechenden Vorgaben gehalten hat", etwa an Abstandsregeln. Werde dies "glaubhaft bestätigt", müsse niemand kontaktiert werden.
Nun stellt sich die Frage, warum Restaurantgäste persönliche Daten angeben müssen, wenn sie im Ernstfall nicht angerufen werden - oder nur, wo Regelverstöße bekannt sind. "Natürlich hätten wir es nie erfahren können, wenn die Presse uns nicht den Fall bekannt gemacht hätte", schreibt der Wirt des "Ponte", als Caren Streletzki ihm ihre Erkrankung mitteilt. Er habe sich und die Kellner testen lassen, alle negativ.
Auch Georg Alexander ist wütend, "umso mehr, als Herr Spahn noch seine Nächstenliebe versichert hat". Gemeint ist Spahns Tweet am Tag seiner Diagnose. "Allen, mit denen ich Kontakt hatte, wünsche ich, dass sie gesund bleiben. Geben wir weiter aufeinander acht!", schrieb er da auf Twitter. Scheinheilig, sagt Caren Streletzki. Über Monate habe Spahn gepredigt, Risiken zu meiden und bei der Kontaktverfolgung zu helfen. Passiert sei offenbar das Gegenteil.
Caren Streletzki hat überlebt, gesund ist sie nicht. Dauernd bleibt ihr noch die Luft weg, schon bei den kleinsten Anstrengungen, "fix und fertig" macht sie das. Auch der Druck im Kopf und in den Ohren will nicht weichen, so als sei sie zu lange unter Wasser gewesen. "Es schmeißt einen ziemlich zurück", sagt sie noch. Vom Minister möchte sie vorerst nichts hören.