Man weiß nie wirklich, warum ein Mensch sich selbst tötet, nicht einmal, wenn er selbst einen Grund angibt, wie das offenbar Hessens Finanzminister Thomas Schäfer tat. Aber seine offenkundige Verzweiflung darüber, die Erwartungen der Menschen nicht erfüllen zu können, die von einem Politiker in der Corona-Krise schnelle Lösungen, Hilfe, klare Antworten und auch eine Portion Zuversicht erwarten - die dürfte auch vielen Politikern und Entscheidungsträgern nicht fremd sein, die weit davon entfernt sind, an einen Suizid zu denken.
Sie können nun gerade das nicht, was Wähler und Medien gemeinhin von ihnen verlangen: wissen, wo es langgeht, und schon im Kopf haben, was man braucht, um zu bewältigen, was ansteht. Sie müssen sich durch die Krise tasten, genau wie Krankenhauschefs und Manager, Freiberuflerinnen, Kassierer, Virologinnen, alle. Sie können keine guten Entscheidungen treffen. Sie können nur hoffen, die weniger schlechte getroffen zu haben. Die Ausgangsbeschränkungen zu lockern kostet Menschenleben; sie beizubehalten zerstört ebenfalls Existenzen. Wofür immer sie sich entscheiden, sie laden in dieser Lage Menschen Lasten auf, die sie ihnen normalerweise nie aufbürden dürften. Das muss jeden, der nun Entscheidungen zu treffen hat, an seine Grenzen bringen, wenn er kein abgebrühter Zyniker ist.
Der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen hat das unlösbare Dilemma von Politikern im Medienzeitalter so beschrieben: Sie sollen zugleich authentisch sein und keinen Fehler machen; nicht authentisch zu sein wird im Zeitalter der ubiquitären Resonanz so wenig verziehen wie ein Fehler. Nur schließt sich faktisch beides aus: Wer authentisch sein will, muss zugeben, dass er Fehler macht - wer behauptet, keine Fehler zu machen, stilisiert sich als Politikmaschine oder Übermensch. Die Corona-Krise treibt dieses Dilemma auf die Spitze. Gerade dann, wenn die Bürgerinnen und Bürger sich am meisten den fehlerlosen Politiker wünschen, muss der, will er sie nicht anlügen, ihnen sagen: Wir werden Fehler machen, egal, was wir tun.
Angesichts dessen machen die Politiker, Abgeordneten, Bürgermeister, Landräte, Minister gerade einen ziemlich guten Job, oft am Rande ihrer körperlichen und seelischen Belastungsfähigkeit. Das Maß an Selbststilisierung und Selbstpromotion ist auf ein historisch niedriges Niveau gesunken, die kollektive Kompetenz der entscheidenden Frauen und Männer im Land ist, auch im internationalen Vergleich, erstaunlich, manchmal gar bewundernswert. Die Bürgerinnen und Bürger müssen ihnen deshalb keine Lieder vom Balkon singen oder klatschen, wenn sie einen im Fernsehen sehen; es würde genügen, wenn sie akzeptierten: Wer in dieser Zeit regiert oder Politik macht, ist der gleichen Unsicherheit und Unplanbarkeit ausgeliefert wie alle - er macht Fehler und wird sie machen, aber es wird nicht anders gehen. Und er darf Sätze sagen wie: Ich weiß es nicht. Ich kann es noch nicht sagen. Ich bin da so unsicher wie wir alle.
Das heißt nicht, unkritisch zu werden gegenüber den Vorstellungen und Entscheidungen der Regierungen, Verwaltungen, der Politik. Es bedeutet aber, Kritik und Streit als Teil des gemeinsamen Ringens, der gemeinsamen Suche nach dem richtigen Weg zu sehen - und gerade denen zu misstrauen, die eine schnelle Lösung, einen einfachen Weg anpreisen, die vorgeben, ein Patentrezept in der Tasche zu haben. Das haben derzeit nur die Taschenspieler. "Wir können nicht zaubern, sondern nur das Menschenmögliche tun, um Schaden von unserem Land abzuwenden", schrieb Thomas Schäfer in einem seiner letzten Tweets. Es könnte sein Vermächtnis sein.
Wir berichten in der Regel nicht über Selbsttötungen, außer sie erfahren durch die Umstände besondere Aufmerksamkeit. Der Grund dafür ist die hohe Nachahmerquote nach jeder Berichterstattung über Suizide. Wenn Sie sich selbst betroffen fühlen, kontaktieren Sie bitte umgehend die Telefonseelsorge (www.telefonseelsorge.de). Unter der kostenlosen Hotline 0800-1110111 oder 0800-1110222 erhalten Sie Hilfe.