Hätte Jens Spahn geschwiegen, dann könnte man den ersten Ratschlag der Leopoldina glatt überlesen, so selbstverständlich klingt er. Empfohlen wird das "Offenhalten von Bildungseinrichtungen unter Berücksichtigung geeigneter Schutzmaßnahmen" sowie das "Ermöglichen eines Präsenzbetriebs, da für nahezu alle Kita-Kinder und Schulkinder der Präsenzbetrieb in Kitas und Schulen die effektivste Art des Lernens ist".
So steht es in der jüngsten Stellungnahme, die die Nationale Akademie der Wissenschaften am Montag veröffentlichte. Und so ähnlich lautet auch das erklärte Ziel der Kultusministerinnen und -minister für das kommende Schuljahr.
Doch auch Jens Spahn, der Bundesgesundheitsminister, hat sich am Wochenende zu den Schulen geäußert . Im Herbst und Winter, sagte er mitten hinein in die dem Nullpunkt entgegenfallenden Inzidenzzahlen und die steigende Sommerstimmung, werde es voraussichtlich wieder Wechselunterricht geben. Und erinnerte so daran, dass die Pandemie nicht vorbei ist - und dass es immer noch führende Politiker gibt, die als Erstes an die Schulen denken, wenn es um mögliche Einschränkungen geht.
Die Leopoldina hätte sich also kaum einen besseren Zeitpunkt aussuchen können, um ihre neuesten Empfehlungen an die Politik vorzulegen. Es ist die achte sogenannte Ad-hoc-Stellungnahme, die erste nach einem halben Jahr Pause und die zweite, die sich dem Befinden von Kindern und Jugendlichen in der Pandemie widmet. Und bei aller Nüchternheit der wissenschaftlichen Sprache liest sich das Papier stellenweise nicht wie eine Sammlung von Ratschlägen, sondern wie eine Abrechnung mit der Politik.
Es beginnt scheinbar optimistisch. Die meisten Kinder und Jugendlichen würden die durch die Pandemie entstandenen Belastungen und Defizite "aller Voraussicht nach" überwinden können. Von der "Plastizität des menschlichen Gehirns" ist die Rede und "der Resilienz des Organismus". Doch dann kommt das große Aber: "Manche Kinder und Jugendliche werden hingegen kurz-, mittel- und wahrscheinlich auch langfristig von Belastungen und erlittenen Defiziten begleitet werden." Die Kinder nämlich, die ohnehin benachteiligt sind, weil es ihren Eltern an Geld, an Bildung oder an beidem mangelt.
Problematische Entwicklungen schon vor der Pandemie
"Schon vor der Pandemie gab es problematische Entwicklungen im deutschen Bildungssystem", stellt die Leopoldina ebenso sachlich wie drastisch fest. Und zählt dann auf, was Erhebungen der letzten Jahre zutage gefördert haben: Jedes fünfte Kind hat im Alter von fünf Jahren einen Sprachförderbedarf. Jedes vierte Kind hat am Ende der Grundschule in den mathematisch-naturwissenschaftlichen Fächern schon den Anschluss verloren. Ein Fünftel der 15-Jährigen kann nicht "sinnentnehmend" lesen. Jeder zweite Jugendliche mit Migrationsgeschichte findet nach der Sekundarstufe 1 zunächst keinen Ausbildungsplatz. "Auf diese Krisensymptome", heißt es, "traf die Pandemie."
Um die ohnehin Abgehängten nicht noch weiter abzuhängen, das macht die Leopoldina in ihrer Stellungnahme deutlich, muss die Politik sich dieser Gruppe verstärkt zuwenden - und zwar dauerhaft. "Es sollte also nicht nur darum gehen, pandemiebedingte Defizite auszugleichen, sondern die Situation von Kindern und Jugendlichen in Deutschland soll nach der Pandemie besser als vorher sein." Von höchster wissenschaftlicher Stelle erhält die Politik hier den Auftrag, Bildungsungleichheit nachhaltig abzubauen.
Kurzfristig rät die Leopoldina zu diesem Zweck, die Schulen offen zu lassen und sich gerade an den Grundschulen verstärkt auf die Kernfächer Deutsch und Mathematik zu konzentrieren. Mittel- und langfristig gelte es, die Sprachförderung vor der Schule auszubauen, also in der Kita, und "zusätzliche Förderinstrumente für Schülerinnen und Schüler mit schwächeren schulischen Leistungen in der Primar- und Sekundarstufe" zu entwickeln. "Von zentraler Bedeutung" sei es, "dort Unterstützung zu leisten, wo diese mit hoher Wahrscheinlichkeit am meisten gebraucht wird".
Ungleiches ungleich behandeln
Indirekt schließt sich die Leopoldina damit einer Forderung an, die viele Bildungsforscher schon seit Jahren vertreten: Ungleiches ungleich zu behandeln, also etwa finanzielle Mittel nicht gleichmäßig über die Schulen zu verteilen - mit der berüchtigten Gießkanne -, sondern sie gezielt dort einzusetzen, wo die Herausforderungen am größten sind. Genau das hatte jüngst auch die Ständige Wissenschaftliche Kommission der Kultusministerkonferenz mit Blick auf das Zwei-Milliarden-Aufholprogramm der Bundesregierung gefordert.
Doch die Vorschläge erstrecken sich nicht nur auf Bildung. Durch die Pandemie litten Jugendliche auch verstärkt an Einsamkeit und psychischen Belastungen. Die Leopoldina fordert daher etwa, Lehrkräfte für psychische Probleme besser zu sensibilisieren und die Schulsozialarbeit auszubauen. Zudem habe sich der Bewegungsmangel von Kindern und Jugendlichen durch die Pandemie verschärft. Auch hier fordern die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler einen Ausbau der Angebote in der Schule sowie eine "frühe Diagnostik der motorischen Fähigkeiten aller Kinder".
Die Kultusministerinnen und -minister dürften diese Wunschliste mit gemischten Gefühlen lesen. Einerseits sehen sie sich harscher Kritik ausgesetzt, andererseits erhalten ihre Forderungen nach Präsenzunterricht Unterstützung aus der Wissenschaft. Das war freilich nicht immer so. In der letzten Stellungnahme Anfang Dezember 2020 hatte sich die Leopoldina für einen harten Lockdown ausgesprochen - Schulschließungen inklusive. Es gibt Kultusminister, die ihr das bis heute nicht vergessen haben.