Pandemie:Was der Inzidenzwert noch wert ist

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Wie viele Covid-Patienten kommen auf die Intensivstation? Für Kliniken und deren Intensivstationen sind Frühwarnwerte wichtig. (Foto: Axel Heimken/dpa)

Bundesgesundheitsminister Spahn will den Inzidenzwert 50 aus dem Gesetz streichen. Doch hat damit diese Berechnungsgröße für die Ausbreitung der Pandemie tatsächlich ausgedient? Wissenschaftler warnen davor, sie aus dem Blick zu verlieren.

Von Felix Hütten, München

In Deutschland infizieren sich jeden Tag wieder mehr und mehr Menschen mit Sars-CoV-2. Die vierte Welle, geprägt von der Delta-Variante des Virus, baut sich auf - das zeigen die Inzidenzwerte deutlich. Mitten hinein in diese Entwicklung hat Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) nun den Vorschlag geäußert, den Inzidenzwert 50 aus dem Infektionsschutzgesetz zu streichen. Dies sei "ein Inzidenzwert für eine ungeimpfte Bevölkerung", sagte Spahn den "Tagesthemen". Er verliere, so Spahns Argumentation, im Zuge der Impfkampagne an Aussagekraft.

Die Idee dahinter: Zwar können sich auch geimpfte Personen mit Sars-CoV-2 infizieren und würden daraufhin einen positiven PCR-Test erhalten. Allerdings zeigt sich derzeit, dass sich das Virus bei vielen Geimpften zwar auf der Schleimhaut im Nasenrachenraum festsetzen kann - dort aber erfolgreich vom Immunsystem bekämpft wird, bevor es in die Lunge vordringt. Anders als im vergangenen Jahr, so zumindest die Überlegung, müssten deshalb mit voranschreitender Impfkampagne deutlich weniger Infizierte im Krankenhaus oder gar auf einer Intensivstation behandelt werden.

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Einen ersten Hinweis liefert der Lagebericht des Robert-Koch-Instituts (RKI) mit Daten zu Covid-Patienten, die ins Krankenhaus eingeliefert werden. Hier ist auch die sogenannte Hospitalisierungsinzidenz zu finden, also die Zahl der Neuaufnahmen pro 100 000 Einwohner innerhalb von sieben Tagen. Diese Woche lag der Wert bundesweit bei 1,30. Nach Angaben der Bundesregierung bewegte er sich im vergangenen Winter teilweise um 10 bis 12.

Genau deshalb wolle man, so Spahn, die Krankenhausaufnahmen von Covid-Patienten stärker in den Blick nehmen und hieran mögliche Maßnahmen insbesondere für ungeimpfte Personen ausrichten. Welche konkreten Werte hier gelten sollen, ließ Spahn allerdings bislang unbeantwortet.

Von einer Abschaffung sprach der Minister nicht

Immerhin: Geimpfte und Genesene sollen keine gravierenden Einschränkungen mehr erleben. Auf die Frage, ob es im Herbst einen Lockdown geben werde, antwortete Spahn in den "Tagesthemen": "Für Geimpfte und Genesene sicher nicht."

Von einer Abschaffung des Inzidenzwertes sprach Spahn allerdings nicht, sondern legte dar, dass dieser Wert und die Zahl der Neuaufnahmen in Krankenhäusern auch weiterhin zusammenhängen. Sein Argument lautet vielmehr, dass sich die Bedrohungslage durch das Virus in einer Gesellschaft, die nach und nach durch Impfungen immunisiert ist, nicht mehr alleine an der Inzidenz 50 bewerten lasse.

Auch plant Spahn die Aufnahmen in den Kliniken zu betrachten - und nicht die Belegung der Intensivbetten. Diese Unterscheidung ist wichtig, denn viele Covid-Patienten, die schwer erkrankt auf einer Intensivstation behandelt werden müssen, wurden zunächst auf eine Normalstation eingewiesen. Steigt hier also die Zahl der Patienten deutlich an, wäre dies ein Frühwarnsystem für eine mögliche Überlastung der Intensivstationen.

Genau dieses frühe Erkennen einer bedrohlichen Entwicklung sei wichtig - und hier spiele der Inzidenzwert weiterhin eine Rolle, sagt Eva Grill, Präsidentin der Deutschen Gesellschaft für Epidemiologie: "Ich plädiere daher dafür, ihn nicht aus dem Blick zu verlieren." Diese Einschätzung teilen die wissenschaftlichen Leiter des Intensivregisters der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (Divi), Christian Karagiannidis und Steffen Weber-Carstens. "Es besteht auch in den kommenden Monaten eine enge und lineare Beziehung zwischen der SARS-CoV-2-Inzidenz und der Intensivbettenbelegung. Bereits ab Inzidenzen von 200/100.000 ist wieder eine erhebliche Belastung der Intensivstationen mit mehr als 3000 COVID-19-Patienten zu erwarten, sofern die Impfquote nicht noch deutlich gesteigert wird", schreiben sie in einer aktuellen Simulation des Infektionsgeschehens für den kommenden Winter.

Entscheidend ist, wie viele Menschen sich impfen lassen

Aktuell kursieren unter Experten diverse Vorschläge, welche anderen Parameter sich womöglich besser für die Bewertung der Pandemie eignen könnten. So ist etwa ein Ampelsystem denkbar, das verschiedene Kenngrößen wie etwa die Wachstumsrate der Inzidenz, Hospitalisierungsrate, freie Intensivkapazitäten und die Impfquote berücksichtigt.

Aus der Debatte um den Inzidenzwert lässt sich allerdings noch eine weitere Erkenntnis ableiten: Je mehr Menschen sich in Deutschland impfen lassen, desto mehr verliert das Virus an Schrecken - daran besteht in der Wissenschaft kein Zweifel. Weltweit, auch in Deutschland, das zeigen aktuelle Daten, kämpfen Pflegekräfte und Ärzte in den Krankenhäusern fast ausschließlich um das Leben ungeimpfter Patienten. Seit Beginn des Jahres verzeichnet das RKI insgesamt gerade mal 1000 Personen, die trotz Impfung in einem Krankenhaus behandelt werden mussten.

"Wenige Prozentpunkte in der Impfquote haben eine erhebliche Auswirkung auf die potenzielle Intensivbelegung im Herbst", schreiben die Divi-Experten Karagiannidis und Weber-Carstens. "Bemühungen um die Steigerung der Impfakzeptanz sollten in den kommenden Wochen im Vordergrund stehen." Oder anders formuliert: Mit den verfügbaren Impfstoffen besteht zumindest theoretisch die Option, dass der Inzidenzwert irgendwann von ganz alleine an Bedeutung verliert.

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