Coronavirus:Auf der dritten Welle

Coronavirus in Deutschland: U-Bahn in Berlin während der Corona-Pandemie

"Wie sich die nächsten Wochen entwickeln, hängt sehr stark davon ab, wie sich die Bevölkerung verhält": Zwei maskierte Passagiere in der Berliner U-Bahn.

(Foto: Florian Gaertner/imago images)

Die Zahl der Neuinfektionen steigt. Die geplanten Lockerungen dürften das exponentielle Wachstum noch beschleunigen.

Von Sören Müller-Hansen und Benedict Witzenberger

Als die Bundeskanzlerin Angela Merkel im April 2020 den Begriff "Öffnungsdiskussionsorgien" prägte, lag die Sieben-Tage-Inzidenz bei 20, binnen einer Woche hatten sich in Deutschland also je 100 000 Einwohner 20 Menschen neu mit dem Coronavirus infiziert. Die Forderungen vieler Ministerpräsidenten nach Lockerungen waren Merkel damals zu voreilig - trotz sinkender Fallzahlen. Heute liegt die Inzidenz bei 67, Tendenz steigend. Zugleich dürfen vielerorts Grundschulen und Kitas, Friseursalons und Gartencenter aufmachen, am Mittwoch wollen die Ministerpräsidenten über weitere Öffnungspläne beraten. Wie passt das zusammen?

Betrachtet man die Metriken, die den Verlauf der Pandemie bestimmen, so gibt es auf diese Frage nur eine passende Antwort: gar nicht. So zeigt die Simulation des Pharmazie-Professors Thorsten Lehr von der Universität des Saarlandes vom vergangenen Mittwoch: Bleibt das Infektionsgeschehen konstant, wird also nicht gelockert, so würde die Inzidenz weiter ansteigen und läge Anfang April bei etwa 100. Bei leichten Lockerungen, wie sie nun bereits in Kraft getreten sind, könnten die Fallzahlen deutlich schneller ansteigen. Dies deckt sich mit SZ-Berechnungen, die bei gleichbleibenden Maßnahmen Anfang April eine Inzidenz zwischen 100 und 600 ergeben. "Wie sich die nächsten Wochen entwickeln, hängt sehr stark davon ab, welche Beschlüsse bei der Ministerpräsidentenrunde getroffen werden und wie sich die Bevölkerung danach verhält", so Lehr. "Bei einem Anstieg der Kontakte von 20 bis 25 Prozent gehe ich von einem starken Anstieg der Infektionszahlen in den nächsten Wochen aus."

Dass vorerst nicht mehr mit sinkenden Fallzahlen zu rechnen ist, zeigt der Blick auf den R-Wert. Er gibt an, wie viele Menschen eine infizierte Person durchschnittlich ansteckt. Liegt er über eins, nimmt die Zahl der Neuinfektionen zu. Das exponentielle Wachstum beginnt. Das Problem dabei: Weil die Fallmeldungen vom Labor zu den lokalen Gesundheitsämtern, über die Landesbehörden zum Robert-Koch-Institut (RKI) gelangen müssen, haben die Neuinfektionsdaten zum Teil einen großen Meldeverzug. Das RKI veröffentlicht den R-Wert daher mit einigen Tagen Verzögerung.

Das Impfen wird sich wohl erst im Frühsommer auswirken

Für den 23. Februar wird der R-Wert auf einen Bereich zwischen 0,98 und 1,17 geschätzt. Das war kurz nach der Öffnung der Schulen - weshalb man deren Effekt noch nicht ausreichend beurteilen kann. Bei einem solchen Wert steigt die Zahl der Infizierten wahrscheinlich exponentiell, die Zeit, in der sich die Zahl der Neuinfizierten verdoppelt, läge bei etwas über einem Monat. Problematisch dabei ist, dass sich die deutlich ansteckendere britische Mutante B.1.1.7 in Deutschland ausbreitet, schon bald könnte sie die Mehrzahl der Fälle ausmachen.

Das Karlsruher Institut für Technologie fasst die Prognosen verschiedener Forschungsgruppen zusammen. Zuletzt lagen die realen Fallzahlen meist im oberen Bereich der Voraussagen im Modell. Dies lege die Interpretation nahe, erklärt Johannes Bracher, dass der beobachtete Anstieg mit den neuen Varianten zusammenhänge. Die genaue Entwicklung vorherzusagen, sei angesichts der Varianten, der Schulöffnungen und möglicher saisonaler Effekte momentan schwierig.

Thorsten Lehr von der Universität des Saarlandes hat zumindest die Hoffnung, dass sich das starke exponentielle Wachstum mit dem gezielten und regelmäßigen Einsatz von Schnelltests, mit den bestehenden AHA-Regeln und digitaler Kontakthinterlegung bremsen ließe. Einen Effekt des Impfens hingegen, so Lehr, könne man angesichts des aktuellen Impftempos erst im Frühsommer erwarten.

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