Bundesverfassungsgericht:Karlsruher Zäsur

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Gute Laune am letzten Arbeitstag: Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier (li.) überreicht Peter Müller im Schloss Bellevue die Entlassungsurkunde. (Foto: Annette Riedl/DPA)

Am höchsten deutschen Gericht werden turnusmäßig zwei Richterposten neu besetzt. Das könnte die zuletzt sehr konservative und interventionistische Linie der Institution verändern.

Von Wolfgang Janisch, Karlsruhe

Der Termin ist gut gewählt. Ein Jahr geht zu Ende, in dessen zweiter Hälfte das Bundesverfassungsgericht sehr präsent war. Zum Ausklang verlassen zwei Personen den Zweiten Senat des Gerichts, die maßgeblich zu dieser Performance beigetragen haben. Sibylle Kessal-Wulf war als Berichterstatterin für das Haushaltsurteil zuständig, das die Politik auf den Kopf gestellt hat wie kaum ein Urteil zuvor. Und Peter Müller, dem einstigen Ministerpräsidenten des Saarlands, tritt man vermutlich nicht zu nahe, wenn man ihn als Unterstützer ebenjenes Urteils sieht, das die schwäbische - oder saarländische - Hausfrau zum Leitbild des politischen Haushaltens macht. Beide haben an diesem Donnerstag von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier ihre Entlassungsurkunde bekommen, denn auch für sie gilt die weiseste aller Karlsruher Regeln: Nach zwölf Jahren ist Schluss.

Es ist ein fliegender Wechsel. Noch am Dienstag saßen beide im Karlsruher Gerichtssaal, verkündet wurde das Urteil zur Teilwiederholung der Bundestagswahl in Berlin; der Berichterstatter hieß Müller. Auf ihn folgt Generalbundesanwalt Peter Frank. Und für Kessal-Wulf kommt Holger Wöckel, der noch am Dienstag im Bundesverwaltungsgericht in Leipzig an der Urteilsverkündung zum umstrittenen bayerischen Kreuzerlass beteiligt war. Gut möglich, dass ihn dies in Karlsruhe wieder einholt. Die Kreuz-Kläger prüfen eine Verfassungsbeschwerde - für die dann freilich der Erste Senat zuständig wäre.

Müller gehörte mit Andreas Voßkuhle und Peter Huber zu einem einflussreichen Trio

Der Doppelwechsel ist ein markanter Einschnitt für den Zweiten Senat, bei dem die meisten politisch brisanten Verfahren angesiedelt sind. Müller gehörte fast ein Jahrzehnt lang mit Andreas Voßkuhle und Peter Huber zu einem einflussreichen Trio, dessen europakritischer Kurs 2020 in das brachiale Urteil zu den Kompetenzen der EZB mündete.

Mehr und mehr wurde Müller zu einer zentralen Figur im Senat, auch wegen seiner Zuständigkeit fürs Wahl- und Parteienrecht. So hatte er über die Finanzierung von Parteien und politischen Stiftungen zu befinden und zuletzt gleich zwei Mal über das Wahlrecht. Und weil Müller weiß, dass man sich nicht durch feinsinnige Fußnoten ins Geschichtsbuch einschreibt, entwickelte er einen beträchtlichen Gestaltungsdrang, zumal mit Blick auf den politischen Betrieb, dem er entstammt. Im Sommer verfügte sein Senat kurzerhand in einem präzedenzlosen Eilbeschluss, der Bundestag müsse sich fürs Heizungsgesetz mehr Zeit nehmen; kurz zuvor hatte Müller, heikel für einen Richter, solche "Hoppla-hopp-Verfahren" in einem Interview öffentlich kritisiert.

Die Alten und die Neuen: Auf Sibylle Kessal-Wulf und Peter Müller (4. und 3. von re.) folgen am Bundesverfassungsgericht Peter Frank und Holger Wöckel (2. und 1. von re). Bei den Entlassungen und Ernennungen im Schloss Bellevue waren auch dabei (von li.): Bernd Krösser, Staatssekretär im Innenministerium, Justizminister Marco Buschmann, der Präsident des Bundesverfassungsgerichtspräsident Stephan Harbarth und Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier. (Foto: Annette Riedl/DPA)

Auch wenn sowohl die scheidenden als auch die neuen Richter auf Vorschlag der Union gewählt sind: Der Wechsel bietet die Chance, den zuletzt sehr konservativen und interventionistischen Tonfall des Senats wieder auszubalancieren. Unter den erfahrenen Mitgliedern könnte Christine Langenfeld an Bedeutung gewinnen, auf dem CDU-Ticket gewählt, aber ein ausgeprägt liberaler Geist. In den Verhandlungen zeigt sie - nachdem sie lange genug zugehört hat - oft kluge Kompromisslinien auf. Wichtiger könnte auch die Rolle von Astrid Wallrabenstein werden, gewählt auf Vorschlag der Grünen.

Und die Neuen? Holger Wöckel, Jahrgang 1976, ist nach Ines Härtel der zweite Ostdeutsche in den Reihen des Bundesverfassungsgerichts. Geboren wurde er in Karl-Marx-Stadt, das - als er die Schule abschloss - bereits Chemnitz hieß. Nach Studium und Promotion in Freiburg wurde er Verwaltungsrichter und stieg durch die Instanzen nach oben, bis zum Bundesverwaltungsgericht. Karlsruher Erfahrungen sammelte er von 2019 bis Anfang 2021 als wissenschaftlicher Mitarbeiter beim Gerichtspräsidenten Stephan Harbarth.

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Peter Frank, von 2015 an Generalbundesanwalt, hat dort eine erstaunlich sichere Hand bewiesen, obwohl das Geschäft immer komplizierter geworden ist - beim Rechtsterrorismus, aber auch mit Ermittlungen wegen syrischer oder russischer Kriegsverbrechen. Von Bedeutung für den künftigen Job dürfte dabei sein, dass Frank seine Rolle als Chefermittler mit einer rechtsstaatlichen Grundierung versehen hat; ein breitbeiniger Sheriff war er nie. Überhaupt ist der 55-Jährige ein eher vermittelnder Charakter mit hoher sozialer Kompetenz - was dem Klima im zuletzt so aufgewühlten Zweiten Senat guttun könnte.

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