Wiederaufnahmeverfahren:Trotz Freispruchs wieder vor Gericht: Karlsruhe kippt umstrittenes Gesetz

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Kein Wiederaufnahmeverfahren nach Freispruch: Bundesverfassungsgericht kippt umstrittene Gesetzesänderung. (Foto: Uli Deck/dpa)

Niemand darf wegen einer Tat mehrmals bestraft werden - das ist ein zentraler Grundsatz im Rechtsstaat. Was aber, wenn neue DNA-Analysen Jahre nach einem Freispruch die Schuld beweisen? Das Bundesverfassungsgericht hat nun ein wegweisendes Urteil dazu gefällt.

Es ist ein elementarer Grundsatz des deutschen Rechtsstaates, zu dem das Bundesverfassungsgericht an diesem Dienstag eine wegweisende Entscheidung gefällt hat. Es geht um das Verbot der Doppelbestrafung. In Artikel 103 Absatz 3 Grundgesetz heißt es: "Niemand darf wegen derselben Tat auf Grund der allgemeinen Strafgesetze mehrmals bestraft werden."

Doch 2021 wurde eine neue Regelung in der Strafprozessordnung einfügt, nämlich die Erweiterung von Paragraf 362 Strafprozessordnung um Ziffer 5. Sie erlaubte es, in Fällen, in denen in Angeklagter zuvor freigesprochen wurde, das Verfahren wieder aufzunehmen, wenn neue Erkenntnisse auftauchen, die auf die Täterschaft des Freigesprochenen hindeuten.

Doch die Richterinnen und Richter in Karlsruhe habe die Gesetzesänderung von 2021 nun gekippt. Sie sei verfassungswidrig und nichtig, so das höchste deutsche Gericht ( Az. 2 BvR 900/22 ).

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Die Ende 2021 in Kraft getretene Gesetzesreform sollte die Hürden für ein Wiederaufnahmeverfahren zum Beispiel in solchen Fällen senken in denen erst moderne DNA-Analysen die Aufklärung lange zurückliegender Taten möglich machen. Das neue Gesetz fand allerdings nur Anwendung, wenn es um schwerste Straftaten geht, nämlich Mord, Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen.

Der Fall, um den es geht: der Tod einer 17-jährigen Schülerin aus Niedersachsen

Der Grund, warum sich die Richterinnen und Richter in Karlsruhe mit der Angelegenheit befassten, war ein Fall aus Niedersachsen. Vor mehr als 40 Jahren wurde in der Nähe von Celle eine 17 Jahre alte Schülerin vergewaltigt und erstochen. Ein Verdächtiger wurde festgenommen, kam vor Gericht und wurde zu lebenslanger Haft verurteilt. Gegen das Urteil legte der Mann erfolgreich Revision ein und wurde 1983 schließlich aus Mangel an Beweisen rechtskräftig freigesprochen.

Dann gab es eine Wende: Neue Untersuchungen von DNA-Spuren legen etwa 30 Jahre später nahe, dass er doch der Täter ist. Auf Basis der Gesetzesreform aus dem Jahr 2021 wurde er dann erneut verhaftet und sollte ein zweites Mal vor Gericht. Dagegen legte der Mann Verfassungsbeschwerde ein. Das höchste deutsche Gericht verfügte nach einem Eilantrag seine Freilassung aus der Untersuchungshaft und hat nun im Hauptsacheverfahren final entschieden. Der Fall wird nun an das zuständige Landgericht zurückverwiesen.

Der Grundsatz, dass jemand wegen derselben Strafsache nicht zweimal vor Gericht gestellt oder bestraft werden kann, ist auch in internationalen Übereinkommen wie der Charta der Grundrechte der Europäischen Union und in der Europäischen Menschenrechtskonvention niedergeschrieben, ( hier nachzulesen auf Seite 45). Oft lassen die Formulierungen aber Interpretationsspielraum oder enthalten Ausnahmemöglichkeiten. In der Europäischen Menschenrechtskonvention heißt es etwa sinngemäß, das Verbot der Doppelbestrafung schließe die Wiederaufnahme des Verfahrens nach Gesetz und Strafverfahrensrecht des betreffenden Staates nicht aus, "falls neue oder neu bekannt gewordene Tatsachen vorliegen".

Im deutschen Strafrecht sind Wiederaufnahmeverfahren mit sehr hohen Hürden verbunden - ein Teil der Juristinnen und Juristen sagt, mit zu hohen Hürden. Das zeigt sich immer wieder auch bei Fällen, in denen Unschuldige verurteilt wurden und es dann Jahre dauert, den Justizirrtum zu korrigieren und ein neues Gerichtsverfahren zu erreichen.

In Fällen, bei denen neue Erkenntnisse zuungunsten des Angeklagten auftauchten, war ein Wiederaufnahmeverfahren bis zu der Änderung der Strafprozessordnung 2021 nur bei schweren Verfahrensfehlern möglich oder dann, wenn der Freigesprochene im Nachhinein ein Geständnis ablegte. Zu dieser Regelung kehrt der deutsche Rechtsstaat nun wieder zurück.

In der Mitteilung zur Entscheidung aus Karlsruhe heißt es, das Bundesverfassungsgericht treffe mit dem heutigen Beschluss "eine Vorrangentscheidung zugunsten der Rechtssicherheit gegenüber der materialen Gerechtigkeit". Grob, aber halbwegs verständlich für Nichtjuristen übersetzt: Im Zweifel ist es wichtiger, dass ein Verfahren zum Abschluss kommt und alle Beteiligten wissen, woran sie sind, als dass mögliche Rechtsfehler korrigiert werden.

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