Bundestagswahl:Warum das Projekt "Kanzler Schulz" nicht funktioniert hat

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Martin Schulz hatte viele Freunde in Brüssel. Und in Berlin? (Foto: dpa)

Der SPD-Kandidat hatte mit seinen Karriereplänen lange Erfolg. Dann lief einiges schief. Auch weil Berlin nun mal nicht Brüssel ist.

Von Christoph Hickmann

Für den Weg aus dem "Murrhardter Hof" hinaus braucht Martin Schulz in etwa so lang, wie er hinein gebraucht hat. Auf dem Hinweg, einmal quer über den Stuttgarter Wilhelmsplatz, waren es die örtlichen Genossen, die vor der SPD-Landesgeschäftsstelle erst ein Gruppenfoto wollten und dann, natürlich, noch um Einzelbilder mit dem Kandidaten baten, woraufhin zwei vorbeispazierende Frauen mit Kopftuch aufmerksam wurden: Herr Schulz, könnte ich vielleicht auch ein Foto mit Ihnen...?

Ein paar Maultaschen und eine Apfelschorle später stellen sich Schulz nun, am Dienstagmittag, auf dem Weg aus dem Restaurant erst der Kellner, dann der Chef und schließlich ein Gast in den Weg: Würden Sie vielleicht für ein Foto... ? Es müssen Momente wie diese sein, aus denen Martin Schulz, 61, die Kraft zieht, bis zuletzt zu behaupten, dass er Bundeskanzler werde.

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Selten gab es einen Kanzlerkandidaten, der sich - trotz wachsender Aussichtslosigkeit - so abrackert wie Schulz. Das verdient Respekt. Vor allem angesichts der Wut, die die AfD schürt.

Kommentar von Heribert Prantl

Schulz, der Kandidat: Daran hat man sich ja mittlerweile gewöhnt. Schulz auf Selfies, auf Plakaten, auf den Bildschirmen und Marktplätzen der Republik, vor Rednerpulten, Großleinwänden und Kurzwarengeschäften. Über dieser Gewöhnung ist ein wenig in Vergessenheit geraten, dass ein Kanzlerkandidat Schulz noch vor einem Jahr für die allermeisten schlicht nicht denkbar war - und zwar auch für solche nicht, die ihr Geld damit verdienen, über Politik zu räsonieren oder sie zu betreiben. Die Geschichte dieser Kandidatur, daran lohnt es noch einmal zu erinnern, war eine ganz und gar unwahrscheinliche.

Den bärtigen Menschen aus Brüssel? Kennt kaum einer, kann man nicht auf Plakate drucken und in kein Duell mit der Merkel schicken - und überhaupt macht das doch eh der Sigmar Gabriel. So ungefähr klang das. Martin Schulz selbst allerdings hat früh begonnen, an den Kandidaten Schulz zu glauben. So ging das immer wieder in seiner Karriere, die nur auf den ersten Blick wie der leicht chaotisch mäandernde, am Ende überraschend erfolgreiche Weg eines Schulabbrechers nach ganz oben wirkt. Tatsächlich hat Schulz, zumindest in den vergangenen Jahren, schon einen Plan gehabt, wenn die anderen noch über ihn grinsten. Und die Pläne haben funktioniert, lange Zeit zumindest.

Zum Beispiel vor einigen Jahren, als Schulz, damals Fraktionschef der Sozialisten im Europaparlament, mit einem vermeintlich verrückten Plan durch die Berliner Redaktionen lief: Er wolle, so verkündete er seinen verblüfften Zuhörern, Parlamentspräsident werden, dieses Amt politisieren und auf Augenhöhe mit den Staats- und Regierungschefs agieren.

Welchen Anteil hat Sigmar Gabriel an den Schwierigkeiten des Kanzlerkandidaten?

Gut, dachten da die meisten in Berlin, soll er mal machen - schließlich waren die Vorgänger in diesem Amt eher so etwas wie paneuropäische Grüßonkel gewesen. Doch was machte Schulz? Wurde 2012 Parlamentspräsident, politisierte das Amt in einer nicht für möglich gehaltenen Weise und agierte (beinahe) auf Augenhöhe mit den Staats- und Regierungschefs.

Als Nächstes erzählte er in Berlin, nun wolle er europäischer Spitzenkandidat der Sozialisten für die Europawahl 2014 werden und diese Wahl zu einer Abstimmung über die Spitze der EU-Kommission machen - der Sieger werde dann am Ende Kommissionschef. Alles klar, dachte man, jetzt wird er ein bisschen größenwahnsinnig, der Herr Präsident. Und was geschah? Schulz wurde Spitzenkandidat, die Wahl wurde zur Abstimmung über die Kommissionsspitze, und sein siegreicher Gegenkandidat Jean-Claude Juncker wurde Chef der Kommission. Wieder hatte Schulz' Plan funktioniert - nur dass er selbst am Ende nicht allzu viel davon hatte. So sah es zumindest aus. Allerdings könnte man es auch so sehen, dass der eine Plan schon den Keim des nächsten in sich trug, die europäische Spitzenkandidatur also notwendige Voraussetzung für die Kanzlerkandidatur war. Schließlich hatte die Kampagne dazu geführt, dass ihn nun außerhalb von Berlin und Brüssel ein paar Leute kannten.

Wobei es mit der Kanzlerkandidatur ein bisschen anders lief. Schulz hatte die Sache diesmal nicht selbst in der Hand, sondern war auf jemanden angewiesen, den er zumindest damals seinen Freund nannte: Sigmar Gabriel hatte nach den ehernen sozialdemokratischen Gesetzmäßigkeiten als damaliger Parteichef das sogenannte erste Zugriffsrecht - was bedeutete, dass er sich, solange er lustig war, überlegen konnte, ob er nun wollte oder nicht. Für Schulz führte das dazu, dass er nicht herumlaufen und halb Berlin für die Idee eines Kandidaten Schulz begeistern konnte. Zumindest nicht offen. Seiner Eigenwerbung waren diesmal Grenzen gesetzt. Die berührte er immer wieder, überschritt sie aber nie endgültig. Als Schulz es eigentlich aufgegeben hatte, trug Gabriel ihm doch noch die Kandidatur an. Und dann?

Dann liefen, zum ersten Mal seit Jahren, die Dinge nicht mehr so, wie Schulz sich das vorgestellt hatte. Aber warum eigentlich? Warum funktionierte das Projekt "Schulz Kanzler" nicht so, wie zuvor die Projekte "Schulz Präsident" und "Schulz Spitzenkandidat" funktioniert hatten?

Diejenigen in der SPD, die es nicht nur gut mit Schulz meinen, sagen: Weil er gern Kandidat werden wollte, über das reine Kandidat-Sein hinaus aber letztlich keine Idee für dieses Land hatte, zumindest keine, die deutlich über das Schlagwort "Respekt" hinausgereicht hätte.

Diejenigen, die es eher gut mit Schulz meinen, verteidigen ihn, indem sie Gabriel die Hauptschuld geben: Weil der so lange gewartet habe, sei Schulz kaum Zeit geblieben, einen eigenen Kurs zu definieren.

Für ihn ist das Wort "Freund" ein zentraler Begriff

Was also ist es gewesen? Wohl eine Mischung aus alldem, zu der sich noch die politische Elastizität der Kanzlerin und die fatale Entscheidung des Kandidaten gesellten, vor der nordrhein-westfälischen Landtagswahl nichts mehr zu sagen und bloß keine neuen Programmpunkte zu präsentieren. Natürlich waren auch die drei verlorenen Landtagswahlen ein Faktor. Doch auch das genügt nicht, um zu erklären, warum ein erfahrener Politiker, der schon europaweit Wahlkampf geführt hatte, in diesem Jahr immer wieder überfordert und verloren wirkte, als Hauptdarsteller einer teils erschreckend unprofessionell geführten Kampagne. Warum er so lange brauchte, um mit den Gebräuchen des sogenannten Berliner Betriebs zurechtzukommen.

Vielleicht liegt der Schlüssel in einer Eigenart des Betriebs in Brüssel und Straßburg. Dort trafen sich, zumindest bis zum Einzug der Europafeinde ins Parlament, stets diejenigen, denen es um Europa ging. Bei allen Unterschieden hatte man ein großes, gemeinsames Anliegen - so ähnlich wie in der Kommunalpolitik, wo ja auch nicht entlang ideologischer Fragen gestritten wird. Dem ehemaligen Bürgermeister Schulz kam das entgegen.

Für ihn ist das Wort "Freund" ein zentraler Begriff, er benutzt es ständig. Frankreichs Präsident Macron? Ein Freund. Dessen Vorgänger Hollande? Auch ein Freund. Schulz hat überall in Europa Freunde. In Berlin war das anders. Das große gemeinsame Interesse fehlt hier, weshalb Schulz plötzlich überall Feinde sah: in den Medien, in der eigenen Partei. Die Irritation darüber ist er nicht los geworden.

Und dann gibt es in der SPD noch eine andere Denkschule. Sie sieht Schulz eher als Opfer der Umstände - oder auch als Endprodukt der Amtszeit Gabriels. Der habe die Partei 2009 mit dem Versprechen übernommen, sie zu erneuern, habe aber sieben Jahre lang Kehrtwende an Kehrtwende gereiht und dann, als er es sich endgültig mit dieser Partei verscherzt hatte, eine Organisation an Schulz übergeben, die inhaltlich noch heilloser verwirrt und strukturell noch ausgezehrter gewesen sei als zu seinem Amtsantritt. Es sind nicht wenige, die das so sehen. Bleibt die Frage, ob Schulz die Chance bekommt, die Aufräumarbeiten anzuführen. Am Sonntag weiß man da wohl mehr. Allerdings sollte sich jeder, der Schulz übel will, kurz erinnern, dass seine Pläne bislang stets irgendwie funktioniert haben. Und dass er den nächsten Plan meist schon im Kopf hatte. Wie gesagt: bislang.

© SZ vom 23.09.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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