Eine Woche wie diese hat es im politischen Berlin noch nie gegeben. Am Montag musste sich die Bundeskanzlerin zur Kabinettssitzung zuschalten lassen - da sie in häuslicher Quarantäne ist, konnte sie nicht teilnehmen. Und am Mittwoch wird Angela Merkel nicht in der extra anberaumten Generaldebatte des Bundestags zur Corona-Krise reden können. Vizekanzler Olaf Scholz wird ihren Part übernehmen - auch das ist eine Premiere. Aber auch für die Abgeordneten läuft in dieser Woche vieles anders.
Auf der Tagesordnung des Bundestags steht das vermutlich teuerste Gesetzespaket in der Geschichte der Bundesrepublik. Es geht um einen dreistelligen Milliardenbetrag. Jetzt müssten eigentlich die Abgeordneten im Mittelpunkt stehen, schließlich gilt das Haushaltsrecht als Königsrecht des Parlaments. Doch wegen der Corona-Krise sind die Abgeordneten ausgerechnet jetzt weniger beteiligt als sonst.
"Gerade weil das Gesetzespaket so umfangreich ist, bedarf es der besonderen Prüfung"
Am Mittwoch soll über die Gesetzentwürfe abgestimmt werden. Normalerweise treffen sich die Abgeordneten dienstags in ihren Fraktionen, um über alle Vorhaben zu beraten. Doch wegen der Ansteckungsgefahr gibt es diesmal ein anderes Prozedere. Die Grünen wollen nur zu einer "digitalen Schaltkonferenz" zusammenkommen, die FDP plant eine "Videokonferenz, die über das Intranet der Fraktion koordiniert werden" soll. Auch die Linken beschränken sich auf eine Videokonferenz. Ob das tatsächlich klappt, und sich alle Abgeordneten problemlos beteiligen können, weiß noch niemand - es ist ja ein Debüt. Und der Bundestag gilt nicht gerade als digitaler Vorreiter.
Die SPD werde zwar noch "physisch tagen", sagt ein Fraktionssprecher. Um den nötigen Sicherheitsabstand zwischen den Abgeordneten zu wahren, werde man "den Saal aber leer räumen". Unter anderem dürften die Mitarbeiter der Abgeordneten nicht mehr an der Sitzung teilnehmen. Die Union verzichtet sogar ganz auf ihre Fraktionssitzung.
Der parlamentarische Geschäftsführer der Unionsfraktion, Michael Grosse-Brömer, hat seinen Abgeordneten einen Brief geschrieben. Darin heißt es ziemlich umständlich: "Die Prüfung der Möglichkeit der Durchführung einer Fraktionssitzung vor dem Hintergrund der aktuellen Covid-19-Lage kommt zu dem Ergebnis, dass vor allem die räumliche Situation des Fraktionssitzungssaals gebotene Vorkehrungen zum Gesundheitsschutz der Mitglieder der Fraktion nicht mehr zulässt."
Doch dann wird Grosse-Brömer ziemlich deutlich. Man habe entschieden, "keine Fraktionssitzung zur Vorbereitung der kommenden Plenarsitzung des Deutschen Bundestags durchzuführen. Ihre Anreise am Dienstag, 24. März 2020, ist damit nicht erforderlich."
Grosse-Brömer verspricht den Unionsabgeordneten zwar, ihnen die Gesetzentwürfe zuzusenden. Wer Anregungen und Fragen dazu habe, solle sich an die jeweils zuständigen Arbeitsgruppenvorsitzenden wenden. Und wer nicht zustimmen wolle, solle das bis Dienstag 18 Uhr schriftlich mitteilen, Schweigen werde "mit Fristablauf als Zustimmung gewertet".
Dieses Verfahren stößt auf Kritik - nicht nur deshalb, weil die meisten Abgeordneten das von der Bundesregierung wegen der Krise schnell geschnürte Gesetzespaket am Montag zum ersten Mal zu Gesicht bekamen. Dass sich die Unionsabgeordneten nicht einmal zu einer Konferenz zusammenschalten, halte er "für bedenklich", sagte der Staatsrechtler Ulrich Battis der Süddeutschen Zeitung. "Gerade weil das Gesetzespaket so umfangreich ist, bedarf es der besonderen Prüfung."
Leider sei "es nicht das erste Mal, dass die Bundestagsabgeordneten ihre Rechte nicht ausreichend wahrnehmen". Auch der Staatsrechtler Christoph Möllers hat Zweifel. Gerade in der jetzigen Lage sei "es wichtig, Möglichkeiten zu schaffen, in denen sich die Abgeordneten in ihren Fraktionen im Ganzen austauschen und nicht nur auf Meldeketten und das Vertrauen in ihre Fraktionsführungen angewiesen sind", sagte er der SZ. Es würden gerade "sehr weitreichende Entscheidungen getroffen" und allein Fraktionssitzungen würden "auch einmal eine Willensbildung oder auch nur einen artikulierten Zweifel von unten nach oben, vom einfachen Abgeordneten zu den Fraktionsleitungen" ermöglichen.
Battis moniert aber auch den Vorschlag von Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble, wegen der Corona-Krise das Grundgesetz zu ändern. Für den Verteidigungsfall erlaubt die Verfassung die Bildung eines Notparlaments. Für den Fall einer Pandemie - und den Ausfall vieler Abgeordneter - gibt es jedoch keine vergleichbare Regelung. Schäuble hat seine Verwaltung deshalb bereits einen "Aktenvermerk" über einen möglichen neuen Grundgesetzartikel schreiben lassen. Darin heißt es: "Der Bundestag bestellt einen Notausschuss. Die Mitglieder werden vom Bundestag entsprechend dem Stärkeverhältnis der Fraktionen bestimmt." Im Notfall habe "der Notausschuss die Stellung des Bundestages und nimmt dessen Rechte wahr". Ein Notfall liege vor, wenn aus bestimmten Gründen wie zum Beispiel "einer Seuchengefahr" dem "rechtzeitigen Zusammentritt des Bundestages unüberwindliche Hindernisse entgegenstehen oder dieser nicht beschlussfähig ist".
Battis spricht sich gegen eine solche Regelung aus. "Verfassungsänderungen in sensiblen Bereichen per Galoppverfahren sind abzulehnen, und sensiblere Bereiche als diesen gibt es nicht", sagt er. Verfassungsänderungen "sollten wohlbedacht und nicht in Panik gemacht werden". Außerdem sei "fraglich, ob es eines solchen Eingriffs überhaupt bedarf", schließlich gebe es auch andere Lösungen. In jedem Fall wünsche er sich aber "mehr Achtung vor der Verfassung".