"Sie hätten also alle Wahlkuverts noch einmal aufmachen müssen?", fragt einer der Höchstrichter den stellvertretenden Behördenleiter. Ein Nicken. "Aber Sie haben lieber Mittagspause gemacht?" Wieder ein Nicken.
Es sind Szenen wie diese, die derzeit viele Österreicher sprachlos zurücklassen. Vor dem Verfassungsgericht in Wien geht es seit Montag um die Frage, ob bei der Bundespräsidentenstichwahl im Mai alles mit rechten Dingen zuging. Nur 30 863 Stimmen trennten Wahlsieger Alexander Van der Bellen von Norbert Hofer. Seine FPÖ ficht die Wahl wegen ihr zugetragener Unregelmäßigkeiten an.
Und nach dieser und vieler andere Aussagen der mehr als 90 geladenen Bezirkswahlvertreter und Beisitzer zeigt sich: Die Briefwahlstimmen-Auszählung ist wohl wirklich sehr ungenau, wenn nicht sogar rechtswidrig abgelaufen. Demnach wurden Wahlkuverts zu früh geöffnet, Protokolle ungelesen unterschrieben. Wer die öffentliche Verhandlung mit den Live-Berichten der österreichischen Medien verfolgt, bleibt nicht nur verwundert, sondern je nach Gemütslage verärgert oder sogar amüsiert zurück.
"Es war doch immer schon so"
Solche Vorkommnisse scheinen - wenn auch peinlich, schlampig und oft sogar gesetzeswidrig - nämlich vor allem eines zu sein: nicht neu. "Es war doch immer schon so", ist eine beliebte Antwort dieser Tage vor Gericht. Und jetzt beliebter Hashtag unter österreichischen Journalisten auf Twitter. Jahrelang habe man es bei der Auszählung von Briefwahlstimmen nicht so genau genommen, seien diese Vorgänge gelebte Praxis in den Bezirkswahlbehörden gewesen. Und es habe nie jemanden gestört, heißt es von den Zeugen.
Die Anhörung läuft noch bis Donnerstag, vier haarsträubende Ergebnisse gibt es jetzt schon:
1. Es wurde zu früh ausgezählt
Das österreichische Gesetz sieht eine Prüfung und Auszählung der Briefwahlstimmen erst am Tag nach der Wahl von neun Uhr früh an vor. Mehrere Bezirkswahlbehörden sahen sich aber laut ihren Aussagen vor Gericht außerstande, so spät anzufangen und dennoch pünktlich fertig zu werden. Der Zeitdruck sei enorm gewesen. Deshalb wurden in mehreren Behörden die Wahlkarten bereits am Sonntag geöffnet, in manchen auch schon ausgezählt. In einigen Fällen auch von amtlich nicht zuständigen Personen.
2. Protokolle wurden ungelesen unterschrieben
Bei der Frage, warum Wahlbeisitzer Protokolle unterschrieben, die von der Realität abwichen, zeigen sich ähnliche Muster. "Ich habe das unterschrieben, weil ich ein unerschüttliches Vertrauen in die Wahlbehörde hatte", sagte etwa eine Wahlbeisitzerin im Bezirk Südoststeiermark. Habe sie nicht im Protokoll gelesen, dass sie damit bezeugt, dass erst am Montag und in ihrem Beisein ausgezählt wurde? "Nein." Und auch eine Wahlbeisitzerin im Bezirk Innsbruck-Land gab zu Protokoll: "Ich habe im Vertrauen, dass alles passt, unterschrieben. Wenn ein Jurist am Werk ist, wird das ja schon stimmen." Lese man das nicht durch, bevor man unterschreibe, will der Richter wissen. Sei das nicht üblich? "Nein."
3. Es wurde ungenau ausgezählt
Anfangs hätten elf Stimmzettel gefehlt, nach erneutem Zählen nur mehr sechs, schließlich nur mehr drei, erzählt eine Beisitzerin des Bezirks Wien-Umgebung: "Bei einer Menge von über 10 000 Kuverts ist es leider sehr wahrscheinlich, dass da drei durchrutschen." Sie habe dann angeregt, die geleerten Kuverts auf die drei fehlenden Stimmzettel zu durchsuchen. Das sei nicht passiert. Man sei unter enormem Zeitdruck gestanden, gibt der stellvertretende Bezirkswahlleiter zu Protokoll, habe kaum Pausen machen können. "Wir waren fix und foxi." Also hätten sie beschlossen, die Stimmen als ungültig zu zählen und seien in die Mittagspause gegangen. Richter Johannes Schnizer kommentiert verärgert: "Da mach' ma also lieber Mittagspause."
4. Es wird seit Jahren so gehandhabt
Wir haben uns gedacht, das wird schon passen. Wir haben das immer schon so gemacht. Wir haben den anderen vertraut. Solche Aussagen fallen oft bei der öffentlichen Verhandlung zur Anfechtung der Bundespräsidentenwahl. Es ist also sehr wahrscheinlich, dass die gelebte Praxis nicht erst bei dieser Stichwahl gesetzeswidrig war - und dass viele, auch Politiker und darunter auch FPÖ-Chef Heinz-Christian Strache, davon wussten.
Es wäre wohl auch öffentlich nicht weiter debattiert worden, wenn diese Wahl nicht so denkbar knapp ausgegangen wäre. Die FPÖ als Verliererpartei hat ein klares Interesse an einer Wahlwiederholung.
Keine Indizien für eine Wahlfälschung
Tatsächlich ist diese gar nicht mehr so unwahrscheinlich, auch wenn es bisher hauptsächlich peinliche Vorgänge, aber keinerlei Indizien für eine Wahlfälschung gab. Dem Verfassungsgerichthof, der bis zum 9. Juli entscheiden möchte, könnte die Tatsache reichen, dass es in vielen Wahlbehörden schlicht die Möglichkeit zur Manipulation gegeben habe. Das sagt auch Ludwig Adamovich, früherer Präsident des Verfassungsgerichts, im ORF.
Aber selbst wenn die Stichwahl nicht wiederholt wird: Dass es zu so vielen Formfehlern kam, ist eine Blamage. Schon jetzt ist daher klar, dass es dringend einer Reform der Briefwahl bedarf. Das sagte auch der österreichische Innenminister Wolfgang Sobotka (ÖVP) vor Journalisten am Dienstag: "Die Schlampereien sind untragbar." Er habe die Parteienvertreter im Parlament bereits ersucht, sich über "praktikable" Lösungen für eine Reform Gedanken zu machen.