Südosteuropa:Wie Bulgarien sein Gewaltproblem in den Griff bekommen will

Lesezeit: 3 min

Der Druck der Straße wächst: Proteste gegen häusliche Gewalt in Sofia. (Foto: NIKOLAY DOYCHINOV/AFP)

Nach einer Messerattacke auf eine 18-jährige Frau verschärft das Parlament in Sofia das Gesetz zum Schutz vor häuslicher Gewalt. Doch vielen Protestierenden geht das nicht weit genug.

Von Tobias Zick

Aus Sicht vieler Protestierender waren die Worte des Politikers mehr als nur ein Ausrutscher, sie waren ein Symptom für etwas, das ganz grundsätzlich falsch läuft in ihrem Land. Weschdi Raschidow, Abgeordneter der konservativen Regierungspartei Gerb, hatte offenbar nicht bemerkt, dass sich direkt neben ihm ein eingeschaltetes Mikrofon befand, als er am Montag in einer Sitzungspause des Parlaments im Kreis einiger Umstehender Gedanken aussprach, die offenkundig nicht für eine breitere Öffentlichkeit bestimmt waren.

Der Gesetzentwurf zum Schutz vor häuslicher Gewalt, über den an diesem Tag debattiert wurde, sei überflüssig, wetterte Raschidow: "Wir haben doch schon Gesetze in Kraft. Worüber quatschen wir hier? Allen möglichen Huren fällt plötzlich nach 15 Jahren ein, dass sie vergewaltigt worden sind." Dank des eingeschalteten Mikrofons fanden die Worte über mehrere Medien dann doch recht rasch den Weg an die breitere Öffentlichkeit, woraufhin Raschidow von seinem Amt als Vorsitzender des Ausschusses für Kultur und Medien zurücktrat, sich bei "allen Opfern häuslicher Gewalt" entschuldigte und erklärte, ihm sei bewusst, dass seine Wortwahl "inakzeptabel" sei, "vor allem zum jetzigen Zeitpunkt".

Wunden, die mit 400 Stichen genäht werden mussten

Die Gesetzesnovelle wurde dann noch am selben Tag per Parlamentsmehrheit beschlossen, demnach betrifft das Gesetz zum Schutz vor häuslicher Gewalt künftig nicht nur verheiratete oder unverheiratete Paare, die dauerhaft unter einem Dach zusammenleben, sondern auch Partner in einem "intimen Verhältnis", genauer gesagt: einer sexuellen Beziehung von mindestens 60 Tagen Dauer. Auch wird die Höchststrafe für Gewalttäter in solchen Beziehungen von sechs auf acht Jahre erhöht. Für die Abstimmung über diese Neuerungen hatten die Abgeordneten des bulgarischen Parlaments ihre Sommerferien unterbrochen, der öffentliche Druck war zuletzt enorm.

In den vergangenen Tagen hatten sich immer wieder Tausende Demonstranten in Sofia und anderen Städten des Landes versammelt, um ein schärferes Vorgehen des Staates gegen häusliche Gewalt zu fordern. Auch vor den Botschaften Bulgariens in Berlin und anderen europäischen Hauptstädten versammelten sich Unterstützer der Initiative. Anlass war der Fall der 18-jährigen Debora M., die Ende Juni in der Stadt Stara Zagora von einem Mann mit einem Messer schwer verletzt worden war. Ihre Verletzungen mussten in der Klinik mit mehr als 400 Stichen genäht werden.

Der mutmaßliche Täter, der bereits vorbestraft war, wurde schon nach wenigen Tagen freigelassen; das zuständige Gericht bewertete die Verletzungen als "leicht". Nachdem sich daraufhin die Proteste zusammenbrauten, wurde der Mann Ende Juli erneut verhaftet, aufgrund von Droh-Nachrichten, die er dem Opfer kurz vor der Tat per SMS geschickt haben soll. Er beteuert seine Unschuld.

Zu der Protestbewegung haben sich mehrere Verbände zusammengefunden, einer davon ist der Bulgarische Frauenfonds, der erklärte: "Wir sind erschüttert, dass 400 Stiche und eine gebrochene Nase als leichte Körperverletzung verbucht werden." Dies sende an alle Misshandlungsopfer die Botschaft, "dass der Schmerz und der Schrecken, den sie erleben, ungestraft bleiben könnte".

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Die Protestierenden verweisen auch darauf, dass Bulgarien die Istanbul-Konvention des Europarats zur Verhütung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt nicht ratifiziert hat; das Verfassungsgericht hatte 2018 entschieden, dass die Konvention gegen das Grundgesetz verstoße. Die Verschärfung vom Montag, die nun auch Taten außerhalb einer Ehe oder einer eheähnlichen Gemeinschaft umfasst, war eine zentrale Forderung der Protestbewegung, allerdings hat die Definition eines "intimen Verhältnisses" Kritik und Polemik von verschiedenen Seiten hervorgerufen.

Der sozialistische Abgeordnete Iwan Iwanow nannte die Gesetzesnovelle einen "Versuch, gleichgeschlechtliche Beziehungen zu legalisieren", die Vorsitzende seiner Partei, Kornelija Ninova, warnte, auf diese Weise würde die Tür zur Anerkennung eines "dritten Geschlechts" geöffnet. Auf der anderen Seite mahnten Vertreterinnen der Protestbewegung, die Neuerung gehe nicht weit genug; sie kritisierten etwa die darin festgeschriebene Mindestdauer von 60 Tagen für ein "intimes Verhältnis", das unter den Schutz des Gesetzes fällt.

Die Rechtsextremen sagen, die Tat dürfe nicht politisiert werden

Andere verweisen darauf, dass Bulgarien ein generelles Problem mit Gewalt habe, nicht nur innerhalb von Beziehungen. Zudem wurden im Internet Fotos des mutmaßlichen Täters im Fall Debora M. weitergereicht, diese zeigen Tätowierungen mit nationalistischen Parolen. Die Menschenrechtsorganisation Bulgarian Helsinki Committee forderte daraufhin die Staatsanwaltschaft auf, die Machenschaften der im Parlament vertretenen rechtsextremen und prorussischen Partei Revival genauer zu untersuchen. Die Parteiführung erwiderte, die Tat dürfe nicht politisiert werden.

Die Gesetzesnovelle dürfte jedenfalls erst ein Anfang gewesen sein in der Auseinandersetzung des Landes mit seinem Gewaltproblem. An diesem Dienstagabend wurden abermals Tausende Protestierende in Sofia und anderen bulgarischen Städten erwartet.

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