Bürgerschaftswahl:Hamburg - zwischen Einstecktuch und grauer Welt

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Stadtstreicher mit Stil: Schlafstelle und Garderobe eines Obdachlosen in der schicken Hafencity. (Foto: imago/blickwinkel)
  • In der alten Handelsstadt Hamburg spielt das Unternehmertum eine wichtige Rolle - die Politik kommt daran nicht vorbei.
  • Zahlen und Geld spielen in der Hansestadt eine wichtige Rolle. Davon ist auch der Kulturbetrieb betroffen, der knallhart kalkulieren muss.
  • In Hamburg leben viele reiche Menschen. Auf der anderen Seite gibt es Viertel, in denen knapp 90 Prozent der Einwohner Migrationshintergrund haben. 15 Prozent der Einwohner sind arm.
  • Wer die Stadt regieren will, muss beide Seiten im Blick haben.

Von Peter Burghardt und Thomas Hahn, Hamburg

Hamburg ist wieder sehr schön, schöner als meistens das Wetter. Die Stadt liegt in der Ruhe eines Wintermorgens, zumindest am Platz vor dem Rathaus ist sie noch gar nicht richtig wach. Drüben an der Alster drehen Jogger ihre Runden, über die Kennedybrücke braust der Verkehr. Aber vor dem erhabenen Neorenaissance-Bau, der die Hamburgische Bürgerschaft beherbergt, ist noch nicht viel los.

Fast könnte man vergessen, dass Hamburg, die zweitgrößte deutsche Metropole mit 1,75 Millionen Menschen, auch etwas anderes sein kann als schön und ruhig. Aber das täuscht natürlich, und gerade vor der Wahl am Sonntag ist es kein Fehler, nicht nur die annehmlichen Seiten der Hansestadt zu betrachten. Ein Rundgang.

Schlüsselgewalt

Hans-Jörg Schmidt-Trenz stammt aus Rheinland-Pfalz. Trotzdem passt er gut hinein in seinen Job als Hauptgeschäftsführer der Hamburger Handelskammer, den er seit 1996 bekleidet. Schmidt-Trenz trägt nicht nur das Einstecktuch des Weltmannes und berichtet anschaulich davon, dass "ein merkantiles Selbstverständnis tief in der Genetik der Hamburger" verankert sei. Er pflegt überzeugend die hanseatische Kaufmanns-Attitüde, die klar in der Sache ist, aber vornehm im Ausdruck.

Und wenn Schmidt-Trenz nun über diesen Gang spricht, der das klassizistische Handelskammer-Gebäude mit dem benachbarten Rathaus verbindet, dann zeigt er die Stellung der Wirtschaft im Stadtstaat, ohne dabei der Politik zu nahezutreten.

"Die Geschichte will es so, dass wir die Schlüssel für den Gang haben", sagt er.

Die Rathauspolitiker haben keine?

"Die rufen an, wenn sie hierherkommen wollen."

Klare Machtverhältnisse, nicht wahr?

"Wir haben zumindest die Schlüsselmacht. Die Regierungsmacht ist zweifellos im Rathaus. Alles andere wäre vermessen."

Vermessen? Die Bedürfnisse der Wirtschaft sind in Hamburg sehr gegenwärtig. Ihre jahrhundertealte Geschichte als freies Hafen- und Handelszentrum hat die Stadt geprägt, die Verantwortung fürs Geldverdienen ist historisch gewachsen in der Bürgerschaft.

Wer im Rathaus regiert und das weiter tun will, kann gar nicht anders, als ständig das Unternehmertum im Blick zu behalten. Bürgermeister Olaf Scholz und sein SPD-Senat beherzigen diesen Umstand mit großer Konsequenz. Die Folge: Begeisterung bei hohen Wirtschaftsvertretern. "Das Klima ist sehr gut", sagt Schmidt-Trenz, "dieser Bürgermeister hat in schwierigen Zeiten versprochen, er wolle die Stadt ordentlich regieren, und die Wirtschaft ist weithin der Auffassung, dass er diese Zusage eingehalten hat."

Ist das eine Wahlempfehlung?

"Das ist eine Feststellung."

Olympische Spiele

Längst geht der Blick nach vorne. Am 21. März könnte der Deutsche Olympische Sportbund die Stadt zum Bewerber um die Olympischen Spiele 2024 küren. Das wünscht sich die Handelskammer sehr, sie sieht in der Bewerbung das Schlüsselprojekt für eine neue Dimension der Stadtentwicklung.

Je nach Perspektive gibt es aber noch eine wichtigere offene Flanke. Im Frühjahr wird das Urteil des Europäischen Gerichtshofs erwartet, das den Hamburgern endlich erlauben soll, die Elbe so auszuschaufeln, dass die neue Generation der Riesenfrachtschiffe umstandsloser in den Hafen fahren kann. "Lebenswichtig" und "alternativlos" nennt Gunther Bonz, der Präsident des Unternehmensverbandes Hafen Hamburg, die Fahrrinnenanpassung. Seine Rede bekommt einen spitzen Ton, wenn er an Grüne, Linke und Umweltverbände denkt. "Wer für die Fahrrinnenanpassung ist, ist für uns. Wer gegen die Fahrrinnenanpassung ist, ist gegen uns", sagt Bonz. Scholz ist dafür.

Klima der Kalkulation

Natürlich ist Hamburg auch ein Schauspiel, und da liegt es nahe, Joachim Lux zu treffen. Er leitet das Thalia Theater, eine der besten Bühnen Deutschlands. Auf dem Weg zu ihm sieht man, wie ein Cabrio-Pilot seinen Benz bei Eiseskälte offen durch eine schicke Einkaufsstraße lenkt. Kettenraucher Lux, 57, dagegen sitzt in seinem Büro im Zigarettendampf. Er ist weit gereist, das schärft den Blick. Bis 2009 bestimmte der Westfale die Dramaturgie des Wiener Burgtheaters, dann wagte er sich ins Reich der Pfeffersäcke. Effizienz und Kalkulation seien hier "das absolut vorherrschende Klima", sagt Lux. Daran musste sich der kluge Kunstmensch gewöhnen. Er will "beweisen, dass Kultur sich doch rechnet", vor allem als Lebensqualität.

Das verlangt Geduld, "ich habe noch nie so viel über Geld gesprochen wie in Ham-burg". Denn einerseits leistet sich Hamburg für 789 Millionen Euro diese voraussichtlich bis 2017 fertige Elbphilharmonie. Lux hofft, dass der Hochkulturtempel raumfüllend genutzt wird; er unterstützt sogar eine Bewerbung für Olympia. Andererseits muss zum Beispiel sein exzellentes Thalia hart um Subventionen kämpfen. Dennoch hat Lux bis 2019 verlängert, er lebt wie die meisten Hamburger gern in Hamburg. "Eine schöne Stadt, zweifellos", obwohl ihm an Alster und Elbe manchmal das Schräge fehlt. Olaf Scholz? "Die SPD macht im Rahmen ihrer Möglichkeiten anständige Politik", findet Lux, ein geradezu hanseatisch dosiertes Lob.

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Der kühl-populäre König Olaf durfte gar im Thalia mit dem Schriftsteller Ilija Trojanow streiten. Im Rahmen der Lessingtage (Motto: "Aufruhr") wurden auch globale Probleme vermessen, Bagdad und Lampedusa reichen ja bis vor die Tür. Für eine Weltstadt hält Lux das schöne Hamburg nicht so ganz, wenn er an New York oder Shanghai denkt, sondern für "irgendwie niedlich". Weltbürger sind ihm allerdings wichtiger als eine Weltstadt. Umso mehr freut sich der Weltbürger Lux über Solidarität und ärgert sich über Widerstand gegen eine Unterkunft für Flüchtlinge im Villenviertel Harvestehude, wo er wohnt. Lux wünscht sich eine Open City, auch die immer absurderen Mieten sind da ungut. Immerhin sei das prägende Großbürgertum eher traditionell als neureich. Außerdem ist Querdenker Lux generös: "Ich gönne jedem seinen Porsche."

Man nimmt die S 3, es sind nur vier Stationen vom Jungfernstieg an der Binnenalster bis nach Wilhelmsburg. Die Fahrt führt über die Elbe mit den Kränen und Schiffen im Dunst, am anderen Ufer ist immer noch Hamburg und doch eine andere Welt. Diejenigen, die deutsch in ihre Mobiltelefone reden, werden immer weniger und die Bedürftigen immer mehr.

Ungefähr 29 Prozent der Hamburger haben Migrationshintergrund, mindestens 515 000 Menschen. In Wilhelmsburg ist der Anteil dreimal so hoch. Als der Schulleiter Jörg Kallmeyer 1992 in der Stadtteilschule Wilhelmsburg anfing, da war das Verhältnis zwischen Schülern aus deutschen und ausländischen Familien in etwa ausgeglichen. Jetzt stammen von seinen 1100 Schülern 80 bis 90 Prozent aus ausländischen Familien. "Ich sehe das gar nicht mehr", sagt die Lehrerin Sibel Baran. Aber alle spüren es.

Die Pädagogin Baran wurde vor 32 Jahren als Tochter türkischer Einwanderer geboren. Am Gymnasium Blankenese war sie einst die einzige Türkin. In ihrer 8. Klasse hat sie nun einen einzigen gebürtigen Deutschen sitzen, neben 21 Jungen und Mädchen ghanaischer, türkischer oder albanischer Immigranten. Sibel Baran unterrichtet Mathe und Türkisch, ihre Wurzeln helfen ihr auch bei den Sprechstunden. Viele Eltern würden sie sonst nicht verstehen, andere Sprachen übersetzen manchmal die Schüler. Kallmeyer sagt: "Du musst hier richtig Bock auf deinen Job haben." Die meisten seiner Schüler lägen im Hamburger Vergleich zwei bis drei Lehrjahre zurück. Sibel Baran ist manchmal bestürzt über die Deutschkenntnisse, vor allem die schriftlichen. Oft sprächen die Schüler zu Hause kein Deutsch.

Lehrer als Sozialhelfer und Psychologen

In Gegenden wie Wilhelmsburg sind Lehrer nicht nur Lehrer, sondern auch Sozialhelfer und Psychologe. Die Arbeitswoche dauert locker 50 Stunden. "Normalerweise müssten sich die Kollegen auf die Kreuzung legen und sagen, ihr macht uns kaputt", sagt Kallmeyer. Ersatzweise wird sein Institut für seine Projekte mit Preisen überhäuft. Die Schüler finden in den Klassenzimmern Regeln und Normen, die daheim vielfach fehlen. Sie debattieren über Religion, Islamismus, das Meer. Es gibt einen Vertrauenspolizisten.

Die Stadt versucht, die sozialschwache Struktur von Wilhelmsburg zu verändern, etwa durch Wohnungsbau. Und bringt gleichzeitig immer mehr Flüchtlinge in diesem Revier unter. 2012 gehörte Kallmeyer zu den Unterzeichnern eines Brandbriefs an den Senat, forderte ein Umdenken und mehr Mittel, man sei überfordert. Er hält das zweigeteilte System in Stadtteilschulen und Gymnasien für fragwürdig. Nach der Wahl kommt der Bildungssenator zu ihm. "Wir brauchen mehr Lehrer und mehr Platz", sagt Kallmeyer. Und: "Wir brauchen mehr Zeit."

Winternotprogramm

Steilshoop am Samstag. Grauer Himmel, graue Hochhäuser, dem Einkaufszentrum fehlt diese blank gewienerte Herrlichkeit, die man von anderen Konsummeilen kennt. Hier, in einem der sozialen Brennpunkte Hamburgs, hat Dora Heyenn, die Fraktionschefin der Linken, eines ihrer besonders trüben Alltagserlebnisse gehabt. "Ich habe ja diesen Tick", sagt sie. Sie geht in die Hochhäuser, klingelt an den Türen und sagt den Leuten, dass sie zur Wahl gehen sollen. Oft steht die Armut dann direkt vor ihr und schaut aus blassen Gesichtern. Sofern die Tür überhaupt aufgeht. Dora Heyenn klingelte also mal in Steilshoop. "Da war hinter der Tür eine junge Frauenstimme. Die hat gesagt, ich kann nicht aufmachen, ich habe keinen Schlüssel."

Dora Heyenn war mal in der SPD. Die Partei enttäuschte sie, sie trat aus. Dann merkte sie, wie die Armut weiter aus der Hamburger Schönheit glotzte, und kehrte in die Politik zurück. Heute will sie mit der Linken in der Bürgerschaft der allgemeinen Zufriedenheit ein paar Widerworte entgegensetzen. Der Mittelstand kann ganz gut Krach schlagen, Hartz-IV-Empfängern und Leuten mit kleiner Rente hingegen fehlt das Selbstbewusstsein. "Das sind Welten", sagt Dora Heyenn, "und diese Welten berühren sich auch nicht."

15 Prozent der Hamburger sind arm

Es ist nicht so, dass in Hamburg ein ewiger sozialer Winter herrschte. Stephan Karrenbauer, Sozialarbeiter beim Obdachlosen-Magazin Hinz&Kunzt, hält dem SPD-Senat ein aufgestocktes Winternotprogramm für Obdachlose sowie eine "neue Gesprächskultur" zugute: "Jahrelang wurden viele Sachen ignoriert, jetzt ist zumindest einer da, der sich das anhört." Aber den Fachleuten fehlt der übergreifende Plan im Kampf gegen Kinder- und Altersarmut, gegen den Umstand, dass immer mehr Hamburger Hilfe brauchen, weil ihr Einkommen nicht reicht. "Vier Jahre lang haben wir gehört, der Haushalt darf nicht mehr als um 0,88 Prozent steigen, tut uns leid, wir müssen kürzen", sagt Joachim Speicher, Geschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes. "Bei der Kinder- und Jugendarbeit ging es um Streichung von drei Millionen über fünf Jahre. In anderen Bereichen ist das die Rundungsdifferenz in der Portokasse."

Sein Wunsch für die nächste Legislatur-Periode? Mehr Aufmerksamkeit für die Armen der Stadt. Speicher fand die Idee der Grünen gut, eine Enquete-Kommission zum Thema zu gründen. Schon über einen parlamentarischen Ausschuss würde er sich freuen. "Rund 15 Prozent der Bevölkerung sind arm - Flüchtlinge nicht mitgezählt", sagt Speicher, "trotzdem haben wir dafür keinen Ausschuss. Das zu ändern, fände ich einen guten, ersten Schritt." Es ist ein bescheidener Wunsch von der anderen Seite der Hamburger Herrlichkeit.

© SZ vom 11.02.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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