Demokratie:Lotterie im Parlament

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Bürgerräte sollen die repräsentative Demokratie nicht ersetzen, sondern ihr "einen Schub geben", sagt Bundestagspräsidentin Bärbel Bas (SPD). (Foto: Michael Kappeler/dpa)

In dieser Woche werden die Mitglieder des ersten vom Bundestag eingesetzten Bürgerrates ausgelost. Die Ziehung wird live übertragen, die Ansichten über den Sinn des Verfahrens sind geteilt.

Von Robert Roßmann, Berlin

Eigentlich ist Bärbel Bas Präsidentin des Deutschen Bundestags. Und normalerweise hat sie es mit Ergebnissen demokratischer Abstimmungen zu tun. Doch an diesem Freitag will die Sozialdemokratin als Lottofee einer "Bürgerlotterie" auftreten. In Saal 3.101 finden in der Regel Anhörungen der Bundestagsausschüsse statt. Jetzt sollen dort drei durchsichtige Gefäße mit tischtennisballgroßen Loskugeln aufgestellt werden. Das Parlamentsfernsehen des Bundestags wird live übertragen. Und wenn Bas mit dem Ziehen der Kugeln fertig ist, stehen die 160 Teilnehmer des ersten vom Bundestag eingesetzten Bürgerrates fest.

"Bürgerräte haben ein einzigartiges Potenzial, die Demokratie zu bereichern - sie schaffen durch die Zufallsauswahl Raum für Diskussionen zwischen Menschen mit ganz unterschiedlichen Lebenserfahrungen", sagt Bas der Süddeutschen Zeitung. Dies könne "helfen, zu erkennen, wo die Gesellschaft bei wichtigen Fragen steht und wie politische Knoten gelöst werden können".

Aber was sind denn nun diese Bürgerräte, in die die Bundestagspräsidentin so große Hoffnungen setzt?

Die drei Ampelparteien haben in ihrem Koalitionsvertrag vereinbart, "neue Formen des Bürgerdialogs wie etwa Bürgerräte" zu nutzen, um die Entscheidungsfindung zu verbessern. Deshalb werde man "Bürgerräte zu konkreten Fragestellungen durch den Bundestag einsetzen und organisieren", heißt es im Koalitionsvertrag. Das Thema, das der erste Bürgerrat behandeln soll, lautet: "Ernährung im Wandel: Zwischen Privatangelegenheit und staatlichen Aufgaben".

Am Ende soll es ein "Bürgergutachten" geben

Mithilfe von Experten aus Wissenschaft und Praxis sollen die zufällig ausgewählten Ratsmitglieder über das Thema beraten - an drei Wochenenden in Präsenz und an sechs Abenden digital. Bis Februar kommenden Jahres müssen sie ein "Bürgergutachten" mit Handlungsempfehlungen vorlegen. Über dieses Gutachten soll dann der Bundestag diskutieren.

In anderen Staaten, aber auch in einigen deutschen Bundesländern und Kommunen, gibt es bereits derartige Bürgerräte. Der damalige Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU) hatte der SZ schon 2020 gesagt: "Wir müssen unsere parlamentarische Demokratie zukunftsfähig machen." Dabei könne "der Bürgerrat ein wichtiger Ansatz sein". Es gehe "nicht um eine Alternative zur parlamentarischen Demokratie, sondern um ihre Stärkung". Und da könne der Bürgerrat helfen - als "eine Art Kompromiss zwischen einer reinen parlamentarischen Demokratie und einer mit Plebisziten".

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Die Hoffnung ist, dass auf diesem Weg emotionsgeladene gesellschaftliche Debatten versachlicht und entschärft werden können. Im katholischen Irland sei deshalb "in Bürgerräten über das Abtreibungsverbot diskutiert" worden, sagte Schäuble. Am Ende des Prozesses stand ein Volksentscheid, bei dem das Abtreibungsverbot abgeschafft wurde.

Bärbel Bas sieht es ähnlich wie ihr Vorgänger. "Bürgerräte ersetzen die parlamentarische Auseinandersetzung natürlich nicht - sie stehen vielmehr an ihrem Anfang und können ihr einen Schub geben", sagt Bas. "Am Ende entscheiden aber allein die Mitglieder des Deutschen Bundestages, welche Empfehlungen umgesetzt werden und welche nicht."

"Unser Bürgerrat ist zuallererst der Deutsche Bundestag"

CDU und CSU hat Bas damit aber noch nicht überzeugen können. Philipp Amthor ist in der Unionsfraktion für das Thema zuständig. Er kündigt zwar an, dass seine Fraktion den Bürgerrat "konstruktiv begleiten" werde. Und er dankt den Bürgern, die ausgelost werden, schon jetzt für ihren Einsatz. Amthor sagt der SZ aber auch: "Unser Bürgerrat ist zuallererst der Deutsche Bundestag." Und dieser Bundestag stehe bereits "seit Jahren unter dem immer stärkeren Druck einer Entparlamentarisierung - etwa durch Beratungsverlagerungen in Koalitions- und sogenannte Expertengremien". Legitime Bemühungen um mehr Bürgerbeteiligung dürften "nicht zu einer fortschreitenden Erosion des Konzepts der repräsentativen Demokratie führen". Statt "als symbolische Glücksfee" reüssieren zu wollen, erwarte man von Bas deshalb "eher eine Fokussierung auf die Stärkung der repräsentativen Demokratie".

Die Unionsfraktion stört sich aber auch an einem Detail. Die Ampelkoalition hat festgelegt, dass die Zufallsauswahl der Bürgerrats nicht nur so organisiert werden muss, dass seine Mitglieder nach Alter, Geschlecht, regionaler Herkunft, Gemeindegröße und Bildungshintergrund repräsentativ für die Gesamtbevölkerung sind. Zusätzlich soll auch "der Anteil der sich vegetarisch oder vegan ernährenden Personen an der Bevölkerung im Bürgerrat abgebildet werden".

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