Nicht übertrieben wäre es, bei diesem Buch von einer Sensation zu sprechen. Erst dem Untertitel der leicht spleenigen Wortschöpfung "Demophobie" lässt sich entnehmen, dass hier der Beitrag zu einer brisanten politischen Debatte vorliegt. Gertrude Lübbe-Wolff, ehemalige Richterin am Bundesverfassungsgericht, bricht eine Lanze für direktdemokratische Formen der politischen Beteiligung. Keine Angst vor dem Bürger, so lautet ihr Credo.
Mit geschulter Rechtskenntnis und in breit angelegter komparativer Perspektive - Volksbegehren in Costa Rica nicht ausgeschlossen - behandelt Lübbe-Wolff das "Gottseibeiuns" von Verfechtern des institutionellen Same procedure as every year. Kapitel für Kapitel werden die Einwände diskutiert. Die Bevölkerung sei zu blöd und unwillig, Volksbegehren, Volksbefragungen oder Referenden bildeten den Nährboden für Demagogie, Ja-Nein-Entscheidungen seien zu simpel, allenfalls in Gemeinschaften von der Größe der Schweizer Kantone durchführbar, die Rechtsverbindlichkeit der Partizipationsformen bleibe ungeklärt, um nur einige Vorbehalte zu nennen, die auch aus dem öffentlichen Streit über die Zukunft des Parteienstaats vertraut sind.
Von Karlsruher Begründungsstrenge durchweht
Das Buch, "von einer Juristin verfasst, aber kein juristisches Buch", in seinem üppigen Anmerkungsapparat unverkennbar vom Karlsruher Geist der Begründungsstrenge durchweht, macht Voraussetzungen und Folgen demokratischer Willensbildung zum Thema. Eine Streitschrift, sorgfältig recherchiert, dabei im Gestus zugleich erfrischend kämpferisch und von einer unerschütterlichen aufklärerischen Zuversicht in die Klugheit der Leute unterlegt. Lübbe-Wolff diskutiert anhand historisch brisanter Beispiele. Die Verfahrenslogik des Schweizer Volksbegehrens kommt zur Sprache, die Umstände der "Machtergreifung" der Nationalsozialisten. Instruktiv sind die Passagen über Volksbefragungen im Zuge der europäischen Einigung, der Brexit zum Beispiel.
Die Argumentation, in ihrer Fundiertheit weitaus mehr als eine Streitschrift, erweist sich im Horizont der durchweg spannend aufbereiteten Einzelfälle als ein demokratietheoretisches Lehrstück. Schließlich geht es dabei um die Frage, wie Sorgen und Anliegen - in der Lebenspraxis der Bürger tagtäglich zu erfahren - in den politischen Handlungsraum zu übersetzen sind: Welche Artikulations- und Durchsetzungschancen haben bürgerschaftliche Anliegen in einer historisch gewachsenen Struktur politischer Entscheidungsfindung, etwa im System der Parteienkonkurrenz? Der Fortschritt ist eine Schnecke, so wurde und wird der Koalitionszwang schulterzuckend kommentiert. Aber wenn es unter den Nägeln brennt - um mit dem Klimawandel nur eines von vielen Problemen zu nennen?
Welche Institutionaliserungswege stehen Innovatoren offen und welche Gefahren der De-Institutionalisierung entstehen, wenn sich Parlament und Regierung, durch regelmäßige Wahlen legitimiert, dem Volkswillen öffnen? Oder wenn das Volk auf die Straße geht, mehr Mitsprache fordert, am "Runden Tisch" oder anders beteiligt? In den Verfahrensoptionen, die Lübbe-Wolff in einem übersichtlichen Anhang auflistet, lässt sich leicht eine Antwort auf die Frage des Buches finden: Politische Devianz, etwa "Fridays for Future", eine massenmedial wirksam artikulierte kollektive Kritik an der Sklerotisierung des politischen Systems, ist keineswegs zwangsläufig bedrohlich, vielmehr eine Voraussetzung für institutionelle Innovation.
Denn Insuffizienzen politischer Ordnungen zeigen sich systematisch auf den Ebenen, die schon Max Weber als grundlegend unterschieden hat. Verwaltungsstab und Legitimation bilden die Scharniere des politischen Prozesses. Die Verwaltung, eine Behördenstruktur zieht Tempodrosselung nach sich. Auch die Legitimation, der normative Rahmen eines allgemein geteilten gesellschaftlichen Konsensus ist keineswegs sakrosankt. Der in Wahlen gewährte Vertrauensvorschuss kann bekräftigt oder entzogen werden, abhängig vom Leistungsversprechen derjenigen, die an der Macht sind. Somit ist kontinuierliche Interpretation und Reinterpretation der Wertbezüge, die eine politische Ordnung bestimmen, unabdingbar. Desgleichen gilt für die Verfahrensprinzipien, die den Werten Geltung verschaffen.
Die Sklerotisierung des politischen Apparats droht
Liest man hier also in einem Brevier für soziale Bewegungen, als Kassiber aus den heiligen Hallen der Rechtsrationalität geschmuggelt? Ja und Nein. In modernen Gesellschaften machen direktdemokratische Initiativen zunehmend lauthals von sich reden. Die politische Soziologie diskutiert "Situationsdeutungsgemeinschaften" (Birgitta Nedelmann), kollektive Bewegungen, die im Unterschied zu schwerfälligen Strukturorganisationen, "Catch-all"-Parteien und lobby-orientierten Verbänden, issue-orientiert handeln. Sie können erfindungsreich, thematisierungsflexibel Anliegen auf die politische Agenda treiben. Die Arbeit von Lübbe-Wolff verschafft ihnen Gehör, wobei ihre Argumentation natürlich voraussetzt, dass repräsentativdemokratische politische Systeme über eine eingebaute relative Flexibilität verfügen. Dringend geboten hält die Autorin, über die Institutionalisierung alternativer Entscheidungsformen nachzudenken, die der drohenden Sklerotisierung des politischen Apparats entgegenwirken könnten.
Ungebrochen optimistisch hält das Buch der vielerorts verbreiteten Furcht vor populistischen Auswüchsen das Argument entgegen, dass Systeme nur gewinnen können, wenn sie fallweise die kollektive Klugheit des Souveräns in Anspruch nehmen. Gesellschaftliche Entwicklungen lassen sich nicht einhegen, aber gewiss braucht die historisch gewachsene Gestalt des Demos Toleranzspielräume für politisch artikulierte Devianz und Nonkonformität. In der eingebauten Flexibilität liegt das Geheimnis der Repräsentativdemokratie, die auf der Seite der Bevölkerung den Typus des "wohlinformierten Staatsbürgers" (Alfred Schütz) unterstellt. Das optimistische Pathos ihrer Argumentation aufgreifend, würde die Autorin die demokratische Ordnung wohl um die Idee des "wohl vertretenen Staatsbürgers" ergänzen, in vielversprechenden Vorschlägen umgesetzt. Es kommt auf die nähere Ausgestaltung an, und die Demophobie bliebe nicht mehr als ein Gespenst.
Beeindruckend ist der Mut, mit dem die Autorin ein heikles Thema aufgreift. Der Populismus-Vorwurf liegt auf der Hand, aber von dergleichen ist die Argumentation meilenweit entfernt, handelt es sich doch bei den Vorschlägen um durchweg bedenkenswerte Ideen, der Interdependenz institutionalisierter Entscheidungslogiken und Initiativen aus dem vorpolitischen Raum eine stärkere Aufmerksamkeit zu widmen - for the sake of democracy. Lübbe-Wolff betont die Wechselwirkung, erhofft sich hingegen von Partizipationsausweitung eine höhere Elastizität des politischen Systems. Sie setzt dabei in ungebrochen optimistisch aufklärerischem Gestus auf das Argument einer Zivilisierung des Souveräns durch verstärkte fallweise Inanspruchnahme seiner Klugheit.
Tilman Allert lehrte Soziologie an der Goethe Universität Frankfurt.