Bürgergeld:Fordern und Fördern - gut gedacht, aber

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Insgesamt waren in Deutschland im August 2023 knapp 5,6 Millionen Menschen bürgergeldberechtigt. (Foto: imago stock&people/imago/allOver-MEV)

Das Bürgergeld-Gesetz, mit dem Hartz IV abgelöst wird, setzt auf Qualifizierung statt auf Sanktionen. Doch das System der Weiterbildung in Deutschland hat viele Mängel.

Von Peter Fahrenholz, München

In der Politik verdeckt der hitzige Streit um Details oft den Blick auf den eigentlichen Sinn eines Projektes oder einer Reform. Als Ende des vergangenen Jahres das neue Bürgergeld beschlossen wurde, ein Kernanliegen der SPD, mit dem sie endlich ihr Hartz-IV-Trauma überwinden wollte, schoss sich die Union vor allem auf die in ihren Augen zu großzügigen Regelungen beim Schonvermögen ein und bei den Sanktionen gegen Betroffene, wenn sie die gesetzlichen Auflagen missachten. Um das Gesetz durch den Bundesrat zu bekommen, musste die Regierung der Union in diversen Punkten entgegenkommen.

So gut wie keine Rolle in der politischen Diskussion spielte dagegen das eigentliche Ziel der Sozialreform: den Sockel der Langzeitarbeitslosen endlich abzubauen, indem die Weichen neu gestellt werden. Künftig soll nicht die Vermittlung in irgendeinen Job, der oft nur von kurzer Dauer ist, im Vordergrund stehen, sondern der Ausbau von Qualifizierungs- und Weiterbildungsmaßnahmen, um die Betroffenen nachhaltig fit für den Arbeitsmarkt zu machen.

Auf dem Papier wollten das auch die Hartz-Reformen. "Fordern und Fördern" hieß die Devise damals, als Arbeitslosen- und Sozialhilfe zusammengelegt wurden. Mit dem Fordern hat es gut geklappt, es wurde ein Sanktionsregime etabliert, das von vielen, die unverschuldet ihren Job verloren, als unerbittlich, ungerecht und herabwürdigend empfunden wurde.

Die Qualifizierung von Langzeitarbeitslosen stagniert

Was das Fördern anlangt, gehen die Meinungen stark auseinander. Zwar ist die Zahl der Arbeitslosen, die im Jahr 2005, bei Einführung der Hartz-Reformen, fast fünf Millionen betrug, stark gesunken, sie lag im März bei knapp 2,6 Millionen. "Die Grundbehauptung, dass man durch die Hartz-IV-Reformen keine Erfolge erzielt hat, ist schlicht unrichtig", sagt Bertram Brossardt. Er ist Hauptgeschäftsführer von drei bayerischen Wirtschaftsverbänden und sitzt im Verwaltungsrat der Bundesagentur für Arbeit (BA).

Experten, die sich seit Jahren mit der komplizierten Materie Weiterbildung beschäftigen, sehen das weit weniger rosig. "Ein bis zwei Drittel der Langzeitarbeitslosen gehören zu den Geringqualifizierten", sagt der Politikwissenschaftler Wolfgang Schroeder von der Universität Kassel. Und bei den gering und schwach ausgebildeten Gruppen gebe es "bei Qualifizierungsmaßnahmen eine Stagnation".

Tatsächlich nahmen laut BA-Statistik von den knapp 2,6 Millionen Arbeitslosen im März nur 705 000 an Fördermaßnahmen teil, 38 000 weniger als im selben Monat des Vorjahres. Statt Fordern und Fördern müsste es jetzt eigentlich heißen: Fördern und Fördern.

Weiterbildung ist stark fragmentiert

Denn Fachleute sind überzeugt, dass Weiterbildung und Qualifizierung grundsätzlich von Nutzen sind. Das zeigten die meisten Untersuchungen zu dem Thema, sagt der Weiterbildungsexperte Thomas Kruppe vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB), das zur Bundesagentur für Arbeit gehört. "Auch vermeintlich nutzlose Angebote können nützlich sein, weil man das Dranbleiben lernt und Erfolgserlebnisse hat", sagt Kruppe.

Den Vorwurf, viele Langzeitarbeitslose hätten sich im bisherigen Hart-IV-System eingerichtet und wollten gar nicht arbeiten, hält der Soziologe für ein Vorurteil. "Das Argument, dass es bei den Arbeitslosen einen unerreichbaren Bodensatz gibt, stimmt so nicht."

Die größte Hürde ist das Weiterbildungssystem selbst. Deutschland, so Schroeder, sei sehr spät in die berufliche Weiterbildung eingestiegen. "Weiterbildung wurde lange als Nice-to-have angesehen, nach dem Motto: Lass 1000 Blumen blühen." Weiterbildung werde zwar von allen möglichen Seiten angeboten, "aber man weiß nicht, was drinsteckt".

Auch Kruppe hält das System für "stark zerklüftet". Wie zerklüftet, wird aus einer Studie deutlich, die Schroeder und Kruppe zusammen mit anderen Autorinnen und Autoren im Jahr 2019 für die Heinrich-Böll-Stiftung geschrieben haben. Darin ist von einer "fragmentierten, schier unüberschaubaren Weiterbildungslandschaft" die Rede, in der "rund 25 000 Träger ihre Leistungen anbieten".

Fordert einen "Sprung in eine moderne Weiterbildungslandschaft": Andrea Nahles, Vorstandsvorsitzende der Bundesagentur für Arbeit. (Foto: Janine Schmitz/Imago/photothek)

Ein Datenreport des Bundesinstituts für Berufsbildung (BIBB) aus dem Jahr 2018 listet der Studie zufolge 220 bundesrechtlich geregelte Fortbildungsordnungen und weitere landesrechtliche Bestimmungen für Fortbildungsabschlüsse auf, von denen keineswegs alle bundesweit anerkannt werden. Hinzu kommen noch etwa 2600 Regelungen einzelner Industrie- und Handels- und Handwerkskammern zu Fortbildungen und Umschulungen, die oft nur auf dem Gebiet der jeweiligen Kammer gelten. Eine "historisch gewachsene Strukturlosigkeit", so die Böll-Studie.

In der Studie wird deshalb gefordert, die gesamte Weiterbildung in Deutschland zur gleichberechtigten vierten Säule des Bildungssystems neben Schule, Ausbildung und Hochschule auszubauen. "Eine gute Idee, aber in Deutschland sehr schwer umsetzbar, denn es gibt hier sehr viele Akteure", sagt die ehemalige SPD-Vorsitzende Andrea Nahles, die seit August 2022 Vorstandsvorsitzende der BA ist. Die Bundesagentur ist gegenwärtig dabei, mit Mitteln des Arbeits- und Sozialministeriums eine Weiterbildungsplattform zu schaffen, die alle Weiterbildungsangebote umfassen soll.

Auch das Bürgergeld-Gesetz bietet einige Hebel, um gerade Geringqualifizierte für eine Weiterbildung zu gewinnen. So wird der bisherige Vermittlungsvorrang weitgehend aufgehoben. Er verpflichtete die Jobcenter bisher dazu, Arbeitslosen zunächst einen neuen Job zu verschaffen, ehe über geeignete Qualifizierungsmaßnahmen nachgedacht wurde. Auch die sogenannte Eingliederungsquote, mit der erfolgreiche Vermittlungen erfasst wurden (und die besonders erfolgreichen Fallmanagern gute Beurteilungen sicherte), gibt es nicht mehr.

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Der Spielraum der BA bei der Förderung soll erweitert werden. "Wir können jetzt auch besser Grundkompetenzen fördern", sagt Nahles. Wichtig sei aber, dass die BA dafür auch die nötigen finanziellen Mittel bekäme. Für Bürgergeld-Berechtigte, die an Weiterbildungsmaßnahmen teilnehmen, soll es finanzielle Boni geben.

Bisher scheiterten Qualifizierungsmaßnahmen oft daran, dass die Teilnehmer für die Dauer der Weiterbildung mit dem Hartz-IV-Satz vorliebnehmen mussten, weswegen viele darauf setzten, stattdessen einen neuen Job zu finden. Berufsabschlüsse können künftig auch in drei statt wie bisher in zwei Jahren nachgeholt werden. Auch im Umgang mit den Betroffenen will Nahles Hürden abbauen. "Wir wollen die Sprache der Bescheide ändern", sagt sie.

Veränderungen müsse es aber auch in den Jobcentern geben, glauben Schroeder und Kruppe. "Auch die Fallmanager müssen sich qualifizieren", sagt Schroeder. So einfach wird das in der Praxis nicht werden. Denn was in der Öffentlichkeit kaum einer weiß: 104 der insgesamt 405 Jobcenter unterstehen gar nicht der BA, sondern werden kommunal geführt. Das hatte Hessens Ministerpräsident Roland Koch im Rahmen der 2005 beschlossenen Föderalismusreform durchgesetzt.

In diesen 104 sogenannten Optionskommunen habe die BA "keinen Einfluss darauf, wie das Bürgergeld dort umgesetzt wird", sagt Nahles. Und auch in den anderen Jobcentern ist eine von oben verordnete Weiterbildung nicht so einfach, denn dort arbeiten auch Mitarbeiter aus den jeweiligen Kommunen. Die BA könne zwar eine Mitarbeiterschulung anbieten, "aber ob sie angenommen wird, ist freiwillig", sagt Nahles.

Dabei ist klar, dass Weiterbildung angesichts des Fachkräftemangels und der Folgen der Digitalisierung in der Arbeitswelt unerlässlich ist. "Wir brauchen einen Sprung in eine moderne Weiterbildungslandschaft", sagt Nahles. Für Arbeitgeber-Vertreter Brossardt ist Weiterbildung "eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, die deutlich forciert werden muss".

Die Bürgergeld-Reform könnte ein Lackmustest sein, ob das gelingt. "Wenn man den Wechsel zum Bürgergeld ernst nimmt", sagt Wolfgang Schroeder, "kommt das einer Revolution gleich."

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