Brexit und kein Ende:Worüber das Unterhaus debattieren will

Lesezeit: 3 min

Der Tag ihrer größten Niederlage: Theresa May spricht am 15. Januar im Unterhaus, nachdem die Abgeordneten ihr Brexit-Plan abgelehnt haben. (Foto: AFP)
  • Das britische Parlament debattiert am heutigen Dienstag über den Brexit-Plan von Premierministerin May.
  • Viele Abgeordnete haben Änderungsanträge eingereicht. Einer beinhaltet eine Verschiebung des Austrittsdatums, ein anderer die Streichung des Backstop.
  • Die EU wappnet sich für die Entscheidung; in Brüssel hält man eine Fristverschiebung für denkbar.

Von Daniel Brössler, Berlin, Björn Finke, London, und Alexander Mühlauer, Brüssel, London/Brüssel/Berlin

Die Beschlussvorlage der britischen Regierung klingt erst einmal undramatisch: Das Parlament möge bitte feststellen, dass es den Brexit-Plan der Premierministerin zur Kenntnis genommen habe. Über diesen Antrag wird das Unterhaus in London an diesem Dienstag debattieren, samt Abstimmung am Abend. Viele Abgeordnete wollen es jedoch nicht bei der Kenntnisnahme belassen. Sie haben Änderungsanträge eingereicht, mit Forderungen an Regierungschefin Theresa May. Deswegen steht das Parlament vor einem weiteren Tag mit hitzigen Brexit-Debatten. Je nach Ergebnis der Abstimmungen könnte May sogar gezwungen sein, den Abgeordneten mehr Mitsprache über den Austrittskurs zu gewähren.

Die Konservative erlitt vor zwei Wochen eine krachende Niederlage im Parlament. 432 Abgeordnete stimmten gegen den Austrittsvertrag, den London und Brüssel ausgehandelt haben, nur 202 dafür. Ohne gültigen Vertrag droht aber am 29. März ein ungeregelter Brexit, ohne Übergangsphase, dafür mit Zöllen und Grenzkontrollen. Vergangene Woche präsentierte May den Abgeordneten ihren Plan B. Der lautet schlicht, Brüssel um weitere Zugeständnisse zu bitten und das Abkommen im Februar wieder dem Unterhaus vorzulegen.

Debatte im britischen Parlament
:Demokratie in Gefahr? Was gegen ein zweites Brexit-Referendum spricht

Kurz vor der Parlamentsabstimmung ist die Lage beim Brexit verworren bis verzweifelt, Großbritannien steht am Abgrund. Jetzt werden die Rufe nach einem zweiten Referendum lauter. Doch das Risiko ist extrem hoch.

Von Sebastian Gierke

Mays Kalkül: Die Angst vor einem Chaos-Brexit und der näher rückende Austrittstermin sollen den Widerstand skeptischer Abgeordneter brechen - und zugleich in Brüssel die Bereitschaft wecken, doch noch die umstrittene Auffanglösung für Nordirland, den sogenannten Backstop, anzupassen.

Einer der Änderungsanträge für Dienstag könnte dieser Drohung aber ihren Schrecken nehmen. Erhält er eine Mehrheit, muss die Regierung das Parlament am Dienstag kommender Woche über eine brisante Gesetzesinitiative abstimmen lassen: Dieses Gesetz würde May zwingen, Brüssel um eine Verschiebung des Austrittstermins um bis zu neun Monate zu bitten, sollte der Brexit-Vertrag Ende Februar nicht gebilligt sein. Hinter Antrag und Gesetzesinitiative stehen Yvette Cooper von der Oppositionspartei Labour und der konservative Abgeordnete Nick Boles. May lehnt den Antrag ab, weil er ihre Verhandlungsposition schwächen würde. Da jedoch die Mehrheit der Parlamentarier quer durch alle Parteien einen Chaos-Brexit verhindern will, hat die Forderung gute Chancen, angenommen zu werden.

Brüssel spielt bereits eine Verlängerung des Brexit-Verfahrens durch

Die meisten anderen Änderungsanträge am Dienstag zwingen die Regierung zu nichts, sondern drücken nur Vorlieben aus. Und einige kommen May sehr gelegen. Graham Brady, Vorsitzender eines einflussreichen Ausschusses der konservativen Fraktion, schreibt etwa in seinem Antrag, dass das Parlament den Brexit-Vertrag im Februar billigen soll - wenn May bis dahin den ungeliebten Backstop wegverhandelt hat.

Diese Auffanglösung sieht vor, dass Nordirland sich weiter an die Regeln des EU-Binnenmarktes hält und das Königreich in einer Zollunion mit der EU bleibt, wenn nur so Zollkontrollen auf der irischen Insel zu verhindern sind. Brexit-Fans bei den Konservativen lehnen den Backstop ab und stimmten daher gegen den Austrittsvertrag. Bradys Antrag verlangt reichlich wolkig, "alternative Arrangements" zu finden, um Zollkontrollen auszuschließen. Würde diese Forderung mit breiter Mehrheit angenommen, könnte May dies als Argument bei Gesprächen in Brüssel nutzen. Medienberichten zufolge rief May ihre Fraktion bei einer Sitzung am Montagabend dazu auf, Bradys Antrag zu unterstützen.

Eine entscheidende Rolle bei alldem kommt Unterhaussprecher John Bercow zu: Er legt fest, über welche der vielen Anträge abgestimmt wird. May versprach in der Fraktionssitzung zudem, dass die Parlamentarier Mitte Februar noch einmal über Ideen zum weiteren Vorgehen abstimmen dürfen, sollte das Abkommen bis dahin nicht gebilligt sein.

In Brüssel wird Bradys Antrag mit Interesse verfolgt. Stünden hinter Bradys "alternativen Arrangements" praktikable Ideen, sei dies "eine Möglichkeit", sagte ein EU-Diplomat am Montag. Andere einflussreiche Vertreter werfen hingegen ein, dass der Ärger der Brexit-Enthusiasten über den Backstop nur vorgeschoben sei; in Wirklichkeit gehe es allgemein um die Frage, wie eng die Beziehungen zur EU sein sollten.

Zu einer Verschiebung des Austritts, wie sie die Abgeordneten Cooper und Boles mit ihrem Antrag ins Spiel bringen, gibt es in Brüssel bereits Überlegungen. In EU-Kreisen heißt es, dass eine sogenannte technische Verlängerung wohl kein Problem sei. Sollte also das Parlament das Austrittsabkommen bis Ende März billigen, müsste der Brexit nicht unmittelbar vollzogen werden. Schließlich bräuchten die Briten Vorbereitungszeit. Ein Aufschub bis zur Europawahl im Mai wäre demnach ohne Probleme möglich, vielleicht sogar bis zur ersten Sitzung des neuen Europaparlaments am 2. Juli. Für einen Aufschub darüber hinaus wäre ein guter Grund nötig, etwa Neuwahlen oder eine zweite Volksabstimmung. Würde May hingegen einfach nur monatelang weiter über das verhandeln wollen, "worüber wir von Beginn an sprechen: Warum sollte die EU dann einer Verlängerung zustimmen?", fragt ein EU-Diplomat.

© SZ vom 29.01.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

SZ PlusGroßbritannien
:"Ooorder!"

John Bercow, Speaker im britischen Parlament, rückte mit seinen lauten Ordnungsrufen ins Zentrum der Berichterstattung zum Brexit. Über das Unterhaus und seinen Zeremonienmeister.

Von Alexander Menden

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: