Kaum war die Pressekonferenz von Angela Merkel und Boris Johnson am Mittwochabend in Berlin vorbei und der Brite zu Emmanuel Macron nach Paris weitergereist, da hatte die britische Presse schon ihre "breaking news". Die Kanzlerin habe Johnson ein "Ultimatum von 30 Tagen" gestellt, um eine brauchbare Alternative zum Backstop, der Notfalllösung für Nordirland, vorzulegen. "Deutschland gibt Johnson 30 Tage, um No Deal zu verhindern", titelte die Times. Merkel legt eine "Deadline fest", so der Guardian. Merkel stelle einen "neuen Deal" in Aussicht, befand der Telegraph.
Das allerdings ist barer Unsinn und zeigt die Sprachverwirrung, die in vielen politischen Fragen zwischen London und dem Kontinent herrscht. Darüber hinaus belegt der fast schon hysterische Spin, welcher der britischen Öffentlichkeit präsentiert wird, wie sehr sich die britischen Medien mittlerweile vor den Brexit-Karren spannen lassen. Denn wer die Pressekonferenz gesehen und Merkel genau zugehört hatte, konnte sich nur wundern: Nichts davon hatte sie gesagt.
Brexit:Merkel hält Lösung des Irland-Problems für möglich
Beim Besuch des britischen Premiers Johnson betont die Kanzlerin, der Backstop sei nur als Übergangsregel gedacht.
Merkel hatte vielmehr ein schönes, neues Erklärwort für den vielzitierten Backstop gefunden, der im EU-UK-Deal für den Fall vorgesehen war, dass Brüssel und London bis zum Ende der ursprünglich geplanten Übergangsphase keine Lösung für die schwierige Grenzfrage in Nordirland finden. Die Deutsche hatte den Backstop als "Platzhalter" bezeichnet, um eine harte Grenze auf der irischen Insel zu vermeiden. "Man hat gesagt, eine solche Lösung finden wir wahrscheinlich in den nächsten zwei Jahren", so Merkel rückblickend. "Aber man kann sie vielleicht auch in den nächsten 30 Tagen finden, warum nicht?" Ihre Botschaft war klar: Dieser Platzhalter ist nötig, er war eine vernünftige Idee, und er bleibt, bis uns jemand einen besseren Vorschlag macht.
Genau den aber hat Johnson bisher nicht gemacht, im Gegenteil: Der britische Premier hatte in einem Brief an EU-Ratspräsident Donald Tusk Anfang dieser Woche alte Kamellen aufgetischt und vage Versprechen abgeliefert, dass man keine harte Grenze in Irland wolle. Wie genau? Keine Antwort nirgends.
Was also hatten die Briten da in Berlin gehört, und vor allem: Hatten sie Merkel absichtlich missverstanden? Die Remain-Medien, die gegen den Brexit sind, behaupten, Johnson stehe durch das "Ultimatum" jetzt noch mehr unter Druck. Eindeutig positionierte Leave-Medien wie der Telegraph schreiben dagegen Johnson hoch. Eine Einigung sei "in Reichweite". So oder so ist der Spin innenpolitisch motiviert, wie die ganze Reise des Briten vor allem als Signal an Fans und Gegner daheim gewertet wird: Ich bemühe mich zwar, aber wenn die EU keine Einigung anbietet, ist die EU schuld.
Das, was in Großbritannien als "blame game" bezeichnet wird, als gegenseitige Schuldzuweisungen, beherrscht Johnson besonders gut. Er hatte im Unterhaus für den Backstop gestimmt, nun findet er ihn "undemokratisch" und sagt, seine Vorgängerin, Theresa May, habe schlecht verhandelt.
Dass es noch nicht zu einer neuen Einigung mit Brüssel gekommen ist, daran sind, so Johnson, unter anderem der frühere Finanzminister Philip Hammond und die Renegaten im Unterhaus schuld, die Londons Verhandlungsposition "unterminiert" hätten. In Nordirland ist es vor allem der Kooperationspartner der Tories, die DUP, die den Backstop ablehnt, aber Johnson behauptet lieber, der Backstop gefährde das historische Karfreitagsabkommen. Er weiß, dass Zoll- und Grenzkontrollen auf der irischen Insel im Falle eines No Deal aufgrund internationaler Regeln und Gesetze nicht zu verhindern sind, behauptet aber, die Regierung in London wolle keine Kontrollposten errichten; wenn es also welche gebe, seien Irland und Brüssel schuld.
Viele britische Medien spielen das Spiel mit. Die Sun titelt am Donnerstagmorgen: "Auftrieb für BoJo, weil Merkel sagt, ein neuer Backstop sei in 30 Tagen machbar". Schade nur, dass die Begeisterung schon am Mittag einen Dämpfer bekommen wird, wenn Johnson auf den französischen Präsidenten trifft: Der sagt das gleiche wie die Kanzlerin, nur weniger freundlich. Vielleicht verstehen die Briten es ja dann.