EU und Großbritannien:Nur Johnson kann die Blamage abwenden

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Wohin geht die Reise? Boris Johnson muss entscheiden, ob er weiterverhandelt. (Foto: REUTERS)

Scheitern die Brexit-Verhandlungen, würde das beiden Parteien enorm schaden. Vor allem der britische Premier muss großes Interesse an einem Handelsvertrag haben.

Kommentar von Björn Finke, Brüssel

Ein beliebtes Reisemitbringsel aus Großbritannien sind T-Shirts oder Kühlschrankmagneten mit dem Aufdruck "Keep calm and carry on", also: Bleib ruhig und mach einfach weiter. Mit diesem Slogan wollte die britische Regierung im Zweiten Weltkrieg die Moral der Bevölkerung stützen. Jetzt sollte die EU diesen Ausspruch zu ihrem Motto für die Verhandlungen mit London über die künftigen Beziehungen küren.

Die Zeit wird denkbar knapp; die Gefahr wächst, dass zum Jahreswechsel Zölle und Zollkontrollen eingeführt werden, zum Schaden von Unternehmen und Bürgern. Und doch dürfen die EU-Staats- und Regierungschefs, die das Thema am Donnerstag bei ihrem Gipfel debattiert haben, in den kommenden Wochen nicht in Panik verfallen.

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Denn das Schlimmste wäre nun ein Streit zwischen den Mitgliedstaaten, ob das EU-Verhandlungsmandat geändert werden muss, um dem britischen Premier Boris Johnson Zugeständnisse zu offerieren. Schließlich stellt die Geschlossenheit unter den 27 Ländern die größte Stärke der EU in den Gesprächen dar. Was sich ebenso verbietet, wäre, vom Verhandlungstisch aufzustehen - aus verständlichem Frust, weil es nicht vorangeht. Dann könnte Johnson der EU die Schuld am Scheitern geben, und diesen Gefallen darf man dem irrlichternden Populisten nicht tun.

Johnson muss reagieren

Ruhig weitermachen ist daher das Gebot der Stunde, und erfreulicherweise senden die Staats- und Regierungschef in ihrer Gipfelerklärung genau diese Botschaft. Außerdem rufen sie dazu auf, Vorkehrungen für eine chaotische Trennung zu treffen - auch das ist sicher sinnvoll, leider.

Damit muss nun wieder Johnson reagieren. Der Premier hat den Abbruch der Gespräche angekündigt, wenn bis zum EU-Gipfel keine Einigung in Sicht ist. Das ist sie nicht, und Johnson will sich jetzt nach Ende des zweitägigen Treffens am Freitag äußern. Dass er den Stecker zieht, ist aber unwahrscheinlich. Im ewigen Brexit-Drama hat der Konservative schon früher selbstgesetzte Deadlines ignoriert.

Und er muss großes Interesse an einem Handelsvertrag haben: Zölle wären für die britische Wirtschaft viel schmerzhafter als für die europäische, da die EU der mit Abstand wichtigste Exportmarkt ist. Zudem würden höhere Preise, Firmenpleiten und Chaos an den Häfen die schottische Unabhängigkeitsbewegung befeuern. An der Grenze zwischen Nordirland und Irland drohte gleichfalls Ärger - all das will sich Johnson vermutlich ersparen.

Brüssel muss daher einfach abwarten, ob sich London in den Verhandlungen doch noch genug bewegt: etwa bei der Frage, wie die EU sichergehen kann, dass die britische Regierung ihren Unternehmen künftig keine unfairen Vorteile verschafft. Ist eine Lösung absehbar, sollte die EU Johnson im Gegenzug Zugeständnisse beim politisch heiklen wie wirtschaftlich unbedeutenden Streit um Fischfangquoten machen. Das würde den Weg zur Einigung ebnen, in letzter Sekunde.

Leider ist es aber durchaus möglich, dass sich Johnson nicht ausreichend bewegen kann oder will: aus ideologischen Gründen oder aus Angst vor Brexit-Fanatikern in seiner Partei. In diesem Fall kann die EU nichts tun, außer sich auf die Unbill im Januar vorzubereiten. Denn die eigenen Prinzipien über Bord zu werfen und einen Vertrag um jeden Preis zu schließen, ist keine Option. Solch ein Scheitern würde der EU und den Briten enorm schaden, es wäre eine Blamage ohnegleichen. Doch abwenden kann sie nur Johnson.

© SZ vom 16.10.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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