Großbritannien:Die Alternative zum Brexit

Lesezeit: 3 min

Misere in Manchester: Viele Briten sind des Brexit-Streits müde und wollen, dass die sozialen Probleme im Land gelöst werden. (Foto: Anthony Devlin/Getty Images)
  • Während sich Premier Boris Johnson weiterhin mit Brexit-Fragen beschäftigt, setzt Labour-Chef Jeremy Corbyn ein neues Thema.
  • Er will die Wähler mit milliardenschweren Versprechen bei Internet und Gesundheitsversorgung locken.
  • Corbyn setzt dabei auf eine Besonderheit des britischen Wahlrechts.

Von Alexander Mühlauer, London

Es kommt selten vor, dass Jeremy Corbyn so flapsig daherredet wie Boris Johnson. Doch am Freitag machte der Labour-Chef eine Ausnahme. Corbyn war nach Lancester im Nordwesten Englands gereist, um den Bürgern einen Vorgeschmack auf das Wahlprogramm von Labour zu geben, das in der kommenden Woche präsentiert werden soll. Und da sagte er einen Satz, der auch gut vom Premierminister hätte kommen können: "Unser Manifest wird euch die Socken ausziehen." Wie es aussieht, ist Corbyn das bereits am Freitag gelungen.

Der Labour-Chef erklärte in Lancester, eine von ihm geführte britische Regierung werde dafür sorgen, dass jeder Haushalt bis 2030 einen schnellen Internetzugang bekomme - und zwar umsonst. Die Breitbandversorgung sei eine öffentliche Dienstleistung, sagte Corbyn. Doch gerade in ländlichen Gebieten gäbe es für die Unternehmen keinen Anreiz, Glasfaser-Anschlüsse zu verlegen. Deshalb will er Teile des Telekom-Anbieters BT verstaatlichen. Corbyns Botschaft war klar: "Das Volk muss die Kontrolle darüber zurückgewinnen." Um das alles finanzieren zu können, will Labour die Steuern für Digitalkonzerne wie Google, Amazon oder Facebook anheben.

Labour will das Breitbandnetz verstaatlichen, sowie Teile von Post und Bahn

Corbyns Vorstoß war der bislang auffälligste Versuch, auch mal ein anderes Wahlkampfthema zu setzen als den alles überlagernden Brexit. Die Debatte über den EU-Austritt bestimmt im Königreich zwar täglich die Schlagzeilen, aber viele Menschen haben davon genug. Umfragen zufolge wollen immer mehr Bürger den schier endlosen Brexit-Streit hinter sich lassen. Vor der Parlamentswahl am 12. Dezember verlangen sie von der Politik Antworten auf ihre ganz alltäglichen Probleme.

Ganz oben steht dabei die Gesundheitsversorgung. Der National Health Service (NHS) leidet, und mit ihm die Patienten. In Krankenhäusern und Arztpraxen müssen die Bürger immer länger auf Termine und Behandlungen warten. Labour sieht die Verantwortung für die Misere bei den konservativen Regierungen der vergangenen Jahre: Die Tories hätten den NHS kaputtgespart. Corbyn will deshalb dafür sorgen, dass mehr medizinisches Personal eingestellt wird. Das hat Johnson ebenfalls vor, allerdings in geringerem Umfang.

Großbritannien
:Brexit, Brexit und nochmal Brexit: So gehen die Parteien in den Wahlkampf

Die Tories versprechen ein Ende der Selbstzweifel, die Lib Dems wollen alles zurückdrehen und Labour will eigentlich über etwas anderes reden.

Von Christian Simon

Auch auf anderen Politikfeldern ist es so, dass die Tories sich plötzlich spendabler zeigen als unter Johnsons Vorgängerin Theresa May. Das beginnt bei der Frage, wie viele Polizisten das Land braucht, und endet damit, wie viele Bahnstrecken gebaut werden sollen. Doch immer wenn Johnson etwas verspricht, verspricht Corbyn noch mehr. Kein Wunder, dass die Tories eine Kampagne gegen den Labour-Chef gestartet haben. Auf der Internetseite costofcorbyn.com haben die Konservativen aufgelistet, was die Wahlversprechen von Labour angeblich kosten. Herausgekommen ist die Zahl von 1,2 Billionen Pfund. So viel soll eine Labour-Regierung den Steuerzahlern in den kommenden fünf Jahren aufbürden. Führende Wirtschaftsforscher bezweifeln die Zahl, stimmen aber darin überein, dass ein Premier Corbyn weitaus mehr Geld ausgeben dürfte als ein Premier Johnson. Der Labour-Chef selbst macht daraus auch keinen Hehl, doch die Zahl von mehr als einer Billion Pfund nennt er schlicht falsch.

Fest steht, dass Corbyn nicht nur das Breitbandnetz verstaatlichen will, sondern auch die Energie- und Wasserversorgung sowie Teile von Post und Bahn. Um das zu finanzieren, will er den Spitzensteuersatz anheben. Bislang liegt dieser für Jahreseinkommen ab 150 000 Pfund bei 45 Prozent. Das Labour-Programm von 2017 sah einen Spitzensteuersatz von 50 Prozent auf Einkommen ab 123 000 Pfund vor. Welche Werte Labour nun ansetzt, wird sich kommende Woche zeigen, wenn das neue Wahlprogramm vorgestellt wird. Auch Unternehmen müssen mit stärkeren Belastungen rechnen. Im Gespräch ist, dass Labour die Körperschaftsteuer von 19 auf 26 Prozent anheben und den Freibetrag für Erbschaften halbieren könnte.

Britischen Medienberichten zufolge bereiten sich die Superreichen des Landes schon darauf vor, wie sie ihr Vermögen im Fall einer Labour-Regierung in Sicherheit bringen können. Corbyn ist jedenfalls fest davon überzeugt, dass es im Grunde keine Milliardäre geben dürfe; auf Wahlveranstaltungen sagt er ihnen regelmäßig den Kampf an. Die Spaltung der Gesellschaft in Arm und Reich ist seit jeher ein Thema von Labour. Gerade jetzt, da es in Nordengland schwere Überschwemmungen gab, warf Corbyn dem Premierminister vor, dass er sich zu wenig um die dortigen ärmeren Regionen kümmere.

Umfragen zufolge liegen Johnsons Tories in der Wählergunst mit zehn Prozentpunkten vor Labour. Allerdings sagt dies nur etwas über die Stärke der Parteien aus, nicht aber zwangsläufig über die Mehrheit im Unterhaus. Denn die Mandate werden nicht entsprechend der Prozentzahl für die Parteien verteilt, sondern nach dem Mehrheitsprinzip. Wer also in einem Wahlkreis die meisten Stimmen holt, bekommt den Sitz im Parlament. Erreichen die Tories keine Mehrheit, könnte es zu einem sogenannten hung parliament kommen; dann hätte Corbyn womöglich die Chance, eine Labour-Minderheitsregierung anzuführen.

Doch jetzt ist erst einmal Wahlkampf. Und damit die Zeit flapsiger Worte. Auf die Frage, was er von Corbyns Breitband-Vorschlag halte, sagte Johnson sinngemäß: "Schnapsidee."

© SZ vom 16.11.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Alles Wichtige zum Brexit
:Großbritannien verlässt die EU

Damit beginnt eine Übergangsphase bis zum Ende des Jahres, in der sich wenig ändert. Die Entwicklungen im Überblick.

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: