Großbritannien:Die Schlammschlacht um den Brexit beginnt

Brexit Großbritannien EU

Pro-EU-Demonstranten vor dem britischen Parlament.

(Foto: AFP)

Die Abgeordneten in London beraten ab Dienstag über den Brexit-Vertrag und damit auch die Zukunft von Premierministerin May. Der fehlt wenige Tage vor der entscheidenden Abstimmung eine Mehrheit.

Von Cathrin Kahlweit, London

Wer sich derzeit nach ein paar simplen Erklärungen zum Stand des Brexit sehnt, der extrem unübersichtlich geworden ist, kann sich mit ein paar Sportmetaphern behelfen. Eine knappe Woche vor der entscheidenden Abstimmung im britischen Parlament ist das sehr aufschlussreich. Der Wahlkampf vor dem EU-Referendum 2016 war demnach so etwas wie ein chaotisches Kurzstreckenrennen mit einigen nicht offiziell zugelassenen Teilnehmern aus Russland und den USA. Später maßen sich die EU und London dann im Streit um das Ausstiegsabkommen auf der Mittelstrecke, während zur selben Zeit die EU-Kommission und Whitehall eine überaus herausfordernde Partie Fernschach spielten, ebenfalls im vollen Lauf.

Aber es ist noch weit mehr Kondition gefordert: Nach dem 29. März 2019, dem britischen Austrittsdatum aus der EU, steht ein Marathon bevor. Denn dann wird auf der Langstrecke über die Zukunft, nicht mehr über die Trennung verhandelt.

Parlament und Regierung in London haben sich derweil in Sachen Brexit mit wachsender Feindseligkeit duelliert und dabei zu immer massiveren Waffen gegriffen: vom Florett über den Degen zum Säbel. Noch steht kein Sieger fest. Die nächste Runde in Westminster hat nun mit klassischem Sport nur noch wenig zu tun. Was an diesem Montag begonnen hat und sich weit in den Dezember hineinziehen dürfte, ist pures Schlammcatchen. Das erheitert das Publikum. Aber der Ausgang ist völlig ungewiss.

Lockmittel und Drohungen: May versucht alles, um Abgeordnete auf ihre Seite zu ziehen

Tatsächlich steht den Briten eine spannende Zeit bevor. Kommende Woche, nach fünftägiger Debatte, soll die Mehrheit der Parlamentarier, wenn es nach Theresa May geht, dem mit Brüssel ausgehandelten Vertrag plus politischer Erklärung zustimmen. Derzeit sieht es so aus, als würde das nicht klappen. Bis zu 200 Abgeordnete unterschiedlicher Parteien könnten ihr die Gefolgschaft verweigern. Also versucht May, in Einzel- und Gruppengesprächen, in den Lobbys und Teesälen von Westminster, mit Lockmitteln und Drohungen einzelne Kandidaten umzustimmen. Vergangene Woche war sie im Land unterwegs, in Stadthallen und auf Tierschauen, bei Lokalsendern und in Altenheimen, um "dem Volk" den Deal nahezubringen. Nur: Das Volk stimmt diesmal nicht ab.

Niemand kann sagen, dass May es bisher an Hartnäckigkeit hätte fehlen lassen. Sie hat auch jetzt wieder in allerlei Fernsehinterviews angekündigt, sie werde nicht aufgeben, das britische Publikum begeistern, die Abgeordneten überzeugen und zum Schluss auf dem Siegertreppchen stehen. Allein: Die Frage derzeit ist, ob die Regierung taktisch mithalten kann. Derzeit spielen alle Parteien ihr eigenes Spiel, und jede Seite macht sich ihre eigenen Regeln.

Los ging das Ganze am Montag. Da musste der Generalstaatsanwalt des Landes dem Parlament Rede und Antwort stehen zu der juristischen Expertise, die sein Haus für die Regierung zum Austrittsabkommen erarbeitet hatte. Die Regierung hatte, um einer Abstimmungsniederlage zu entgehen, vor Wochen eigentlich versprochen, das gesamte Gutachten zu veröffentlichen, zuckt jetzt zurück und publizierte nur 43 Seiten vom ganzen Opus. Kritiker sagen, so wolle Theresa May vermeiden, dass die ganzen, schrecklichen Folgen ihres Vertrags offenkundig würden und klar ersichtlich würde, wie massiv Großbritannien auf ewig an die EU gekettet ist.

London könne nämlich, argumentieren die Kritiker, nicht einseitig aus der sogenannten Backstop-Regelung für Nordirland austreten, nach welcher der Nordteil der Insel sich stärker an EU-Standards halten muss als der Rest des Landes. Das wiederum könnte die Vereinbarung von Handelsverträgen mit Nicht-EU-Ländern erschweren. Was US-Präsident Donald Trump vergangene Woche zum Missfallen von May bereits angedroht hatte.

Nun muss man kein Jurist sein, um das auch ohne Expertise zu wissen, aber darum geht es längst nicht mehr. Wie Kevin Schofield vom Hauptstadt-Blog Politics Home lakonisch feststellt, wollten Mays Kritiker ihre Muskeln zeigen. Und so wurde zwar einerseits die Zusammenfassung des juristischen Gutachtens, die der oberste Jurist des Landes, Geoffrey Cox, ablieferte, mit Inbrunst erwartet. Andererseits hatte Labour schon vor der Rede angekündigt, man behalte sich vor, die Regierung mit einer archaischen Regel unter Druck zu setzen, die höchst selten angewendet wird und in etwa der "Missachtung des Gerichts" in Strafprozessen gleicht.

Hätte, könnte, wäre. Nichts ist derzeit gewiss in London. Aber alles möglich

Mit diesem Mittel solle die Regierung doch noch gezwungen werde, das ganze Gutachten zu veröffentlichen. Zunächst hätte das zwar keine Folgen. Aber ein Ausschuss des Parlaments müsste sich damit befassen, ob die Regierung die Legislative mit "Verachtung behandelt" hat (der Terminus technicus lautet: to hold in contempt), müsste Zeugen vernehmen und Beweise sammeln, und dann Sanktionen vorschlagen, denen die Parlamentarier zustimmen müssten. Bis das durch ist, schreibt Tony Grew vom Parlaments-Magazin The House, gäbe es wahrscheinlich schon eine neue Regierung oder zumindest eine neue Premierministerin.

Also wird es weitergehen mit dem Catchen. Die Debatte, angesetzt auf fünf Tage mit jeweils acht Stunden, wird mutmaßlich wenig Neues bringen. Aber hinter den Kulissen wird es heiß hergehen. Die Befürworter eines zweiten Referendums haben am Montag eine Petition mit anderthalb Millionen Unterschriften abgegeben, und intern wird gemunkelt, dass sich die Labour-Führung mit dem Gedanken einer neuen Volksabstimmung anfreunden könne.

Gleichzeitig hat Keir Starmer, der präsente Brexit-Sprecher von Labour, zu Beginn der ersten von zwei kriegsentscheidenden Wochen angekündigt, sollte die Regierung die Abstimmung am 11. Dezember verlieren, werde man ein Misstrauensvotum einbringen. Und die DUP, die nordirische protestantische Partei, von der Mays Mehrheit abhängt, hat angekündigt, sie könnte da mitmachen.

Hätte, könnte, würde - nichts ist derzeit gewiss, aber alles möglich in London. Aber wann war es das nicht in den vergangenen zwei Jahren, seit der Brexit abgemachte Sache ist? Oder scheinbar ist? Oder sein soll? Und natürlich soll auch die jüngste Äußerung von Boris Johnson, Ex-Außenminister, nicht fehlen, der die Nation jeden Montag mit seiner Kolumne im Telegraph erfreut: Nerven behalten, schreibt er, Großbritannien könne einen viel, viel besseren Deal heraushandeln. Wahrscheinlicher ist, dass die Nerven blank liegen in Westminster - spätestens in einer Woche.

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