Seit mehr als zwei Jahren leben sie mit der Unsicherheit: Die EU-Bürger im Vereinigten Königreich und die Briten in den EU-Ländern wissen noch immer nicht, welche Rechte ihnen bleiben. Müssen sie zurück in ihr Herkunftsland? Bekommen sie in Zukunft ihre Rente? Werden sie ihren Job verlieren? Solange die Politiker sich weiter streiten, sind diese Fragen offen. Sechs Betroffene erzählen, was der Brexit für sie bedeutet.
"Er sagte zu mir: Es geht ja nicht um Ausländer wie dich"
Dr. Judith Offman, 42 Jahre, kommt aus Deutschland. Vor 23 Jahren ist sie nach England ausgewandert. Sie lebt in London und arbeitet am King's College.
Ich fühle mich betrogen: Seit 23 Jahren lebe ich hier in England, zahle meine Steuern, forsche über Krebs und trage etwas zur Gesellschaft bei. Und dann wird mir gesagt, dass ich nicht mehr willkommen bin. Das war ein großer Schock für mich. Niemand aus meinem Umfeld hat damit gerechnet, wir fühlen uns alle als Londoner und EU-Staatsbürger.
Nach dem Schock kam die Sorge: Was sind meine Rechte? Kann ich zum Beispiel noch die Gesundheitsversorgung nutzen? Ich habe dann schnell beschlossen, mich für die britische Staatsbürgerschaft zu bewerben. Dafür musste ich belegen, dass ich seit mindestens fünf Jahren hier wohne und arbeite. Ich musste alle möglichen Dokumente vorlegen, für jedes Jahr Rechnungen, Arztbriefe, Belege, wann ich wie lange auf Reisen war. Das alles zusammenzusuchen, hat mich eine gute Arbeitswoche Zeit gekostet. Dann musste ich noch einen Einbürgerungstest bestehen - und 1000 Pfund zahlen. Ohne den Brexit hätte ich mir das nicht angetan.
Vor zwei Monaten habe ich die Staatsbürgerschaft bekommen, jetzt fühle ich mich wenigstens ein bisschen sicherer. Mein Mann ist auch kein Brite, er kommt aus Israel und hat einen polnischen Pass, weil er dort geboren ist. Anrufe lässt er lieber mich machen, damit man seinen Akzent nicht hört. Er hat das Gefühl, dass die Menschen im Pub und im Supermarkt ihn anders behandeln als mich deutsche Einwanderin. Einmal habe ich mit jemandem gesprochen, der für den Brexit gestimmt hat, der sagte zu mir: "Es geht ja nicht um Ausländer wie dich."
"Werde ich noch frei in der EU arbeiten und reisen dürfen?"
Pouyan Maleki-Dizaji, 24 Jahre, kommt aus England. Er lebt in Madrid und Brüssel und arbeitet für ein britisches Unternehmen, das die Europäische Kommission berät.
Am Tag des Referendums war ich früh ins Bett gegangen, weil ich sicher war, dass wir eh in der EU bleiben würden. Dann wachte ich auf und das Erste, was ich sah, war eine BBC-Eilmeldung auf meinem iPhone. So schnell bin ich noch nie aus dem Bett gesprungen, das war ein Schock, wie der Moment, wenn du einen frühen Flug gebucht hast und morgens feststellst, dass du verschlafen hast. Dann musste ich auch noch den Morgen mit meinem Sommer-Job im Altenheim verbringen und Rentnern ihre Cornflakes servieren, während die jubelten: "Wir haben unser Land zurück!" Ich muss deren Ignoranz ausbaden und hatte Sorgen, dass mein Master-Studienplatz nun nichts mehr wert ist.
Ich bin dann zu meinem Jura-Professor gegangen und habe ihn gefragt, ob ich den Master überhaupt anfangen soll. Er meinte: "Auf jeden Fall, jetzt ist der beste Zeitpunkt dafür. Noch nie war Fachwissen über die EU so nötig wie jetzt, wenn alle durch den Brexit verunsichert sind."
In den zwei Jahren seit dem Referendum habe ich gemerkt, dass er recht hat. Aber ich spüre auch schon die Auswirkungen des Brexit. Ich arbeite für ein niederländisch-englisches Unternehmen, das die Europäische Kommission berät. Die EU beauftragt natürlich lieber Firmen, die ihren Sitz in der EU haben. Viele meiner Kollegen verlieren jetzt ihren Job. Wir sind alle verunsichert.
Ich selbst arbeite in Madrid und Brüssel und muss mich fragen, wie lange das noch funktioniert. Werde ich noch frei in der EU arbeiten und reisen dürfen? Meine Freundin kommt aus Deutschland und arbeitet in den Niederlanden. Werde ich sie noch ohne Visa besuchen können? Ich weiß es nicht, und von der Regierung hört man nichts.
"Ich will kein Ex-Engländer sein"
Daniel Tetlow ist Brite und lebt in Berlin. Er hat den Verein "British in Germany" mitgegründet, der Informationen und Unterstützung anbietet für Menschen, die durch den Brexit verunsichert sind.
Jeden Tag erreichen unseren Verein Hunderte Fragen von Menschen, die Angst haben. Sie wissen nicht, ob sie bleiben dürfen, welchen Status ihre deutschen Partner oder Kinder haben werden, ob sie weiter von der britischen Regierung ihre Rente und ihre Krankenversicherung bekommen.
Ich erinnere mich an eine Frau namens Alex. Sie ist Computerspiel-Entwicklerin und hat Autismus. Bei ihrem Job wechselt sie oft von Vertrag zu Vertrag und von Land zu Land. Sie fürchtet nun, dass sie diese Freizügigkeit bald nicht mehr haben wird, und dass zukünftige Arbeitgeber lieber EU-Bürger einstellen, weil die weniger Papierkram verursachen. Diese Unsicherheit ist für Alex so schlimm, dass sie in der Psychiatrie behandelt werden muss. Wegen ihres Autismus braucht sie Stabilität und eine klare Vorstellung von der Zukunft. Der Brexit verursacht genau das Gegenteil.
Das ist natürlich ein Extrembeispiel, aber alle machen sich Sorgen. Zum Glück reagieren die deutschen Behörden und Politiker sehr klar: Beamte auf Länder- und Bundesebene haben uns versichert, dass wir in Deutschland bleiben dürfen, egal was mit dem Brexit passiert. Viele wissen das gar nicht, es kursieren zu viele Gerüchte.
Aber nicht nur die deutschen Behörden, auch meine Freunde und Nachbarn hier haben zu 100 Prozent mit Solidarität reagiert, da war nichts von Schadenfreude zu spüren. Ich stand mit Hunderten von Menschen in der Volkshochschule, um meinen Einbürgerungstest zu machen, und war begeistert, wie freundlich die Mitarbeiter sich um jeden Einzelnen gekümmert haben.
Solche Begegnungen helfen sehr, gerade jetzt, wo uns das britische Parlament so hängen lässt. Uns wurde gesagt, dass sich an unseren Rechten als Bürger im Ausland mit dem Brexit nichts ändern würde. Das ist kläglich gescheitert. Ich will kein Ex-Engländer sein, ich bin ein stolzer europäischer Engländer, der im Ausland lebt. Das lasse ich mir vom Brexit nicht nehmen.
Stefanie Röfke, 38 Jahre alt, ist gebürtige Berlinerin und vor vier Jahren nach Großbritannien gezogen. Sie lebt in Huddersfield (Nordengland) und arbeitet als freiberufliche Texterin.
Das klingt vielleicht komisch, aber ich bin optimistisch. Ich mache mir ungern Sorgen wegen etwas, von dem ich noch gar nicht weiß, ob es eintritt. Was soll ich auch machen? Politischen Einfluss habe ich keinen. Ich kann mich nicht vorbereiten, ich lebe erst seit vier Jahren in England, mir fehlt ein Jahr, bis ich die Staatsbürgerschaft beantragen könnte.
Ich wüsste auch gar nicht, auf was ich mich vorbereiten soll, weil niemand weiß, wie es weitergehen wird. Die Politiker im Parlament haben scheinbar genauso wenig Ahnung wie ich. Auf der Regierungsseite steht ganz nett "Macht euch keine Sorgen", aber mehr sagen sie uns EU-Bürgern nicht.
Aber ich habe Vertrauen in die EU. Die scheinen mir bei den Verhandlungen der verlässliche Partner zu sein, während das Vereinigte Königreich sich aufführt wie ein Kind. Am Ende wird die Vernunft siegen. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass man Familien auseinanderreißt und Menschen über Nacht in ihre Herkunftsländer deportiert. Vermutlich will ich es mir auch einfach nicht vorstellen.
Dass ich so zuversichtlich bin, ist relativ neu. Nach dem Referendum gab es Berichte über eine ausländerfeindliche Stimmung im Land, da wurde ich ganz paranoid. Ich habe mich die ersten Wochen gar nicht mehr auf die Straßen getraut weil ich das Gefühl hatte, nicht erwünscht zu sein. Aber meine Angst hat sich schnell gelegt. Meinen britischen Freunden war die Brexit-Entscheidung ziemlich peinlich, die haben dafür gesorgt, dass ich mich weiter willkommen fühle.
Weil ich als freiberufliche Texterin arbeite, bin ich natürlich etwas flexibler als andere. Mir macht nur manchmal Sorgen, dass die meisten meiner Kunden aus Deutschland kommen. Ich weiß nicht, ob ich in Zukunft mehr Steuern zahlen muss. Bisher sind die deutschen Kunden noch ein Vorteil: Ich werde in Euro bezahlt, das lohnt sich zur Zeit, weil der Wert des britischen Pfunds sinkt.
"Wir sind nur das Faustpfand"
Fiona and Richard McIntosh, 39 und 38 Jahre alt, kommen beide aus dem Vereinigten Königreich. Seit neuneinhalb Jahren leben sie in Berlin und arbeiten als Erzieherin und IT-Spezialist.
Gleich nach dem Referendum wussten wir, dass wir unbedingt die deutsche Staatsbürgerschaft beantragen müssen. Wir leben mit unseren drei Kindern in unserer eigenen Wohnung, wenn wir nicht mehr bleiben dürften, wäre das eine Katastrophe. Zum Glück haben wir gute Chancen: Wir leben seit neuneinhalb Jahren in Deutschland, haben beide einen unbefristeten Job und hatten beim Einbürgerungstest die volle Punktzahl.
Die Frage ist nur, ob wir die Staatsbürgerschaft noch vor dem Brexit bekommen. Im November haben wir sie beantragt und seitdem noch nichts gehört. Freunde haben uns erzählt, dass es bis zu einem Jahr dauern kann, und der Andrang in Berlin ist riesig. Mal sehen, ob das vor März klappt. Über Ostern wollen wir unsere Familie in England besuchen, aber wir haben uns noch nicht getraut, die Flüge zu buchen. Wer weiß, ob unser Rückflug dann noch gültig ist?
Ganz zurück nach England wollen wir bisher nicht. In Deutschland zu leben, hat einige Vorteile, der Mutterschutz ist hier zum Beispiel besser. Es gibt keinen Ort in England, der für uns Heimat ist. Wir müssten wieder ganz von vorne anfangen. Aber ganz ausschließen können wir eine Rückkehr auch nicht. Es ist kompliziert.
Wenn es zu einem No-Deal kommt, dann müssen wir uns vielleicht zwischen der deutschen und der britischen Staatsbürgerschaft entscheiden. Ein furchtbarer Gedanke, nicht mehr britisch zu sein - auch wenn sich im Alltag nichts ändern würde. Der britische Pass ist ein Teil unserer Identität.
Leider kümmert sich im britischen Parlament niemand um diese Fragen. Wir Briten im Ausland und EU-Bürger in England, wir sind nur das Faustpfand in den Verhandlungen. Wir haben niemanden, der für alle Briten im Ausland spricht, weil jeder in dem Bezirk in England wählt, in dem er zuletzt gelebt hat. Wir bräuchten jemanden, der sich für uns alle gebündelt einsetzt.