Debattenkultur im britischen Unterhaus:"Ich erschaudere, wenn ich mir die Mutter der Parlamente ansehe"

Lesezeit: 3 Min.

Premierministerin Theresa May setzt zu einer Rede an. Kein Brite weiß, warum auf dem Tisch im britischen Unterhaus so viele seltsame Dinge liegen. (Foto: AP)

Der britische Schriftsteller James Hawes gilt als exzellenter Kenner Deutschlands und er sagte vor 15 Jahren den Brexit voraus. Ein Gespräch über Goethes Faust und die verstaubten Sitten im Unterhaus.

Interview von Martin Zips

In England gilt der Germanist und Schriftsteller James Hawes, 58, der über "Nietzsche und die deutsche Literatur der Jahrhundertwende" promovierte, als exzellenter Kenner Deutschlands. Sein Buch "The Shortest History of Germany" erhielt dort gute Kritiken (auf Deutsch: "Die kürzeste Geschichte Deutschlands", Propyläen Verlag). Doch nun soll Hawes, der an der Oxford Brookes University lehrt und bereits vor 15 Jahren in seinem Werk "Speak for England" einen Brexit vorhersagte, uns endlich einmal sein Land erklären.

SZ: Herr Hawes, haben auch Sie die Debatten im britischen Unterhaus live verfolgt?

Natürlich. Sie wissen ja, dass schon Goethes Faust beim Gedanken an die Mutter erschaudert ist. Und ich erschaudere, wenn ich mir die Mutter der Parlamente ansehe.

John Bercow
:Mächtiger Alleinunterhalter

Der Sprecher des britischen Unterhauses ärgert die Tories - obwohl er selbst einer ist.

Von Cathrin Kahlweit

Auch auf viele junge Europäer wirkten die Unterhaus-Debatten eher befremdlich. Für 650 Abgeordnete gibt es nur 427 Sitzplätze. Man spricht sich mit "The Right Honourable" an. Auf dem Boden befinden sich zwei rote Linien, die nicht übertreten werden dürfen, damit es nicht zu Rangeleien kommt.

Diese Linien stammen aus einer Zeit, in der die Abgeordneten noch mit Schwertern im Parlament saßen. Und sie sind nur ein Beispiel dafür, wie unzeitgemäß das ganze parlamentarische System in England doch ist. Es basiert auf dem Grundsatz: "The winner takes it all". Schon in den Wahlbezirken geht es immer nur um die Frage, wer die meisten Stimmen hat. So setzt sich das fort, natürlich auch im Parlamentsgebäude. Da steht man da als Abgeordneter, schreit und winkt und nickt seinen alten Schulfreunden aus Eton zu, damit die auch mal zu Wort kommen. Auf der einen Seite schreit die Regierung, auf der anderen die Opposition und in der Mitte der Speaker, der einem das Wort erteilt oder auch nicht. Regeln gibt es nicht. Es ist ein Kampf.

Aber warum ist das so?

Das weiß keiner mehr so genau. Einige Speaker mussten mit ihrem Leben bezahlen. Andere wurden an ihrem Stuhl festgebunden, damit sie nicht aufstehen. Denn wenn der Speaker aufsteht, so ist die Sitzung zu Ende. Das wollten die Abgeordneten nicht. Niemand weiß, warum der Speaker so viel Macht hat. Der Grund dafür liegt irgendwo im verschnarchten englischen Wesen.

Sind Sie jetzt nicht ein bisschen streng?

Stellen Sie sich bitte einfach mal vor, dass bei Ihnen in Deutschland erst dann ein Gesetz zum Gesetz werden darf, wenn zuvor ein normannisch-französischer Satz aus dem Mittelalter gesprochen wird: "La reyne le veult!" Und spricht die Königin auch noch so einen normannisch-französischen Satz, so ist das Gesetz wieder gekippt. Also, wenn Sie das hören, so würden Sie doch sagen: Die spinnen ja, die Briten. Das muss doch zusammenhängen mit irgendeinem nationalen Trauma. Genauso ist es! Bis heute wird mein Land bestimmt von den Ereignissen des Jahres 1066, als das normannische Heer die Angelsachsen besiegte und Herzog Wilhelm zum König gekrönt wurde.

Stimmt es, dass Applaus im Unterhaus verboten, Beleidigungen aber erlaubt sind?

Beleidigungen sind sogar ausdrücklich erwünscht. Waren Sie einmal in Eton? Da leben nur reiche, privilegierte junge Männer, die eine völlig andere Sprache sprechen als der normale Bürger. Also, auf mich wirkt das wie eine Gedächtnisstätte für den Ersten Weltkrieg. Da gibt es nur eine Strategie: Man muss sich hochkämpfen. Man muss mächtig werden und seine Macht erhalten. Die ganze Brexit-Debatte ist doch nur eine Schlacht zweier Eton-Boys. Johnson und Cameron.

Warum liegt eigentlich so viel Zeug auf dem Tisch im Unterhaus? Briefe, Bücher, zwei Kisten aus Neuseeland, die als Rednerpulte dienen.

Kein Engländer weiß das. Höchstens ein paar Eingeweihte. Und sehen Sie: Genau das ist das Problem. Das ist wie in einem Club. Sie verstehen das nicht. Und das Unverständliche dient nur einer einzigen Sache: Dem Erhalt der Macht. Die Alten weihen die Jungen in die Geheimnisse und Bräuche ein, das ist wie bei Euren Burschenschaften in Deutschland. So geht es immer weiter. Bis Bäume aus den Kaminen wachsen. Und trotzdem: Das Ende des Vereinigten Königreichs ist da. Das spüren auch und gerade die Jungen, wenn sie die Unterhaus-Debatte als Livestream auf ihrem Handy anschauen. Erst, wenn der Patient sich seines eigenen Wahns bewusst wird, so sagen die Therapeuten, kann eine Besserung eintreten.

Wäre aber auch schade um diesen goldenen Zeremonienstab, der während der Debatte nicht herausgetragen werden darf. Um das "Aye" und "No"-Genuschel und die "Order"-Rufe des Speakers, nicht?

Man weiß nicht, wie lange es das noch gibt. Die Briten sind unglaublich konservativ. Doch ein Parlament, welches in so wichtigen Dingen wie dem Brexit nicht selber entscheidet, sondern beim Volk ein Referendum in Auftrag gibt, das braucht doch eigentlich all diese Dinge nicht mehr, oder nicht?

© SZ.de - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

SZ PlusSeite Drei zum Brexit
:Führungslos, ratlos, planlos

Der Brexit-Deal ist tot, und das britische Unterhaus feiert das mit Johlen und Gelächter. Warum es in London kam, wie es kommen musste. Und wo ist eigentlich David Cameron?

Von Cathrin Kahlweit

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: