Es ist vollbracht, einerseits: Großbritannien hat die Europäische Union verlassen. Andererseits: Wie die Beziehungen nach dem Brexit genau aussehen sollen - das muss erst noch verhandelt werden. Die zentrale Frage bleibt: Wie viel europäisches Regelwerk wird London akzeptieren, wo will das Land eigene Akzente setzen, und welche Instanz entscheidet im Streitfall über das Recht?
Die Scheidung dauerte drei Jahre, aber der britische Premierminister Boris Johnson hat seinem Verhandlungsteam nur elf Monate Zeit gegeben, um eine dauerhafte Regelung mit der EU auszuarbeiten - bis zum 31. Dezember 2020 soll dieser Deal ausverhandelt und ratifiziert sein. Für die neue Freiheit gegenüber der EU nehme der Premier auch Grenzkontrollen in Kauf, zitierten britische Medien am Wochenende nicht näher genannte Regierungsquellen. Johnson wäre zu einem Freihandelsabkommen mit der EU nach dem Vorbild Kanadas bereit. Er will seine Verhandlungsziele für die anstehenden Gespräche über die künftige Beziehung in einer Rede an diesem Montag vorstellen.
Brexit:Johnson will Handelsabkommen mit EU nach kanadischem Vorbild
Nach dem offiziellen Brexit will der britische Premier sein Land nun komplett von Vorschriften der EU lösen. Dafür nehme er Grenzkontrollen in Kauf, berichten britische Medien.
Großbritannien denkt über künftige Gesprächskanäle nach
In Großbritannien selbst rücken die Feinheiten des Deals nun immer mehr ins Zentrum des Interesses. "Großbritannien hat sich endlich verabschiedet, aber wir haben keine Ahnung, wie wir in Kontakt bleiben werden." Diese Bemerkung eines britischen Diplomaten zeigt, wie wenig die nächsten Schritte vorgeplant sind.
(Patrick Wintour / The Guardian)
Frankreich setzt auf bindende Realitäten
In Frankreich macht sich keine Schadenfreude breit. Wie alle Europäer sehen die Franzosen mehrheitlich mit Trauer auf den Austritt der Briten, vor allem weil Europa in einer instabilen Welt stärker auftreten müsse. Eine gewisse Erleichterung ist in Paris jedoch in zumindest einem Punkt zu spüren: Die endlose Brexit-Saga hat die Aufmerksamkeit der europäischen Institutionen gebunden, obwohl doch auch andere, dringende Angelegenheiten die Union hätten beschäftigen müssen.
Jetzt beginnt sich die Situation zu klären, "wir können über die Zukunft sprechen", sagt ein Diplomat. In Paris wird wie auch in Brüssel und Berlin erwartet, dass die Verhandlungen über die Beziehungen hitzig werden. Für die Franzosen muss das Verhältnis so eng wie möglich bleiben und zeigen, dass der Status eines Drittstaats weniger vorteilhaft ist als der eines ordentlichen Mitglieds. Andernfalls würden die euroskeptischen Kreise im Hinblick auf die Präsidentschaftswahlen 2022 weiter gestärkt, angefangen bei Marine Le Pen. Tief im Inneren erwarten die Franzosen, dass das Vereinigte Königreich mithilfe der neuen globalen Kräfte und Donald Trump schnell erkennt, dass sein Interesse daran besteht, im europäischen Orbit zu bleiben.
(Sylvie Kauffmann und Philippe Ricard, Le Monde)
Für Spanien ist der Brexit besonders herausfordernd
Auch Spanien hat eine Menge Arbeit vor sich, um seine Beziehungen zum Vereinigten Königreich zu regeln. Zwischen Spanien und Großbritannien besteht eine intensive Abhängigkeit, sowohl in wirtschaftlicher als auch in finanzieller Hinsicht. Darüber hinaus leben in beiden Ländern Hunderttausende Menschen der jeweils anderen Nation. Das Vereinigte Königreich ist der zweitgrößte Handelspartner Spaniens und das erste Ziel spanischer Investitionen im Ausland. In Spanien sind die Briten die zweitwichtigsten Investoren. Rund 19 Millionen britische Touristen kommen jedes Jahr nach Spanien und geben dort rund 13,3 Milliarden Euro aus.
Spanien ist das erste Wohnziel der Briten in Europa. Es gibt ungefähr 370 000 britische Exilanten im Land. Und nicht jeder ist im Ruhestand: Die Hälfte ist unter 59 Jahre alt. Das Austrittsabkommen scheint die Rechte dieser Menschen, einschließlich ihrer Qualifikationen, Renten und Krankenversicherung, abgeschirmt zu haben. Es bleiben jedoch viele Fragen in Bezug auf ihre Arbeits- und Mobilitätsrechte offen. Gibraltar ist vielleicht das emotionalste Thema auf dem Verhandlungstisch zwischen Spanien und dem Vereinigten Königreich. Beide Regierungen schließen in diesen Tagen ein Abkommen, um zu verhindern, dass der Fels zu einer Steueroase wird. "Diese Vereinbarung wird endgültig sein", sagten spanische diplomatische Quellen. In Memoranden soll geregelt werden, wie Schmuggel verhindert wird, die Polizei zusammenarbeiten soll und Arbeitnehmerrechte der vielen Pendler geregelt werden. Ziel ist es, dass sich an der aktuellen Situation so wenig wie möglich ändert.
Die Herausforderungen sind auf jeden Fall enorm, und in Madrid wird befürchtet, dass eine nationalistische und populistische Agenda aus London alles hinwegspülen kann.
(Xavier Mas de Xaxàs, La Vanguardia)
Italien will Spaltung Europas in der Brexit-Frage verhindern
Ähnliche Themen beschäftigen auch die italienische Regierung, die nun auf die Rechte italienischer Staatsbürger in Großbritannien, die Handelsbeziehungen und die Zusammenarbeit im Bereich Verteidigung und Sicherheit achtet. In den elf Monaten des Übergangs ist Rom fest entschlossen, seine Verhandlungslinie nicht zu ändern.
Marco Peronaci, der Sonderbeauftragte für den Brexit, benennt die Gefahr, die sich nun aus italienischer Sicht zeigt: Jedes Land habe seine eigenen Interessen, aber es dürfe nicht die Haltung entstehen, dass nun "die Beute geteilt" werde - etwa in Fragen der Fischereirechte oder der Beitragszahlungen. Aus diesem Grund strebt Italien eine ausgleichende Rolle an: Der Bruch mit London nützt nach Ansicht von Peronaci niemandem.
Die Zusammenarbeit bei innerer und äußerer Sicherheit stellt für die Regierung in Rom die wichtigste Herausforderung dar. Es sei von entscheidender Bedeutung, den Kanal für den Austausch von Daten und Informationen offenzuhalten - zum Beispiel über Terrorismus und in der Verteidigungs-Kooperation. Italien könne darin nicht auf London verzichten.
(Francesca Sforza und Alberto Simoni, La Stampa)