Gut möglich, dass Theresa May in diesen Tagen an Sir Ivan denken muss. Dieser hatte es stets als seine Aufgabe empfunden, der britischen Premierministerin die Wahrheit zu sagen, so unbequem sie auch sein mochte. Weil May aber offenbar nicht auf ihn hörte, trat Sir Ivan Rogers Anfang des Jahres als EU-Botschafter des Vereinigten Königreichs zurück. Er konnte es einfach nicht fassen, wie blauäugig die Regierung in London dem Brexit entgegen wandelte. Zehn Jahre könnten die Verhandlungen dauern, hatte Rogers gewarnt. Und ja, es werde teuer, davon war er überzeugt: Bis zu 60 Milliarden Euro könnte die EU Großbritannien in Rechnung stellen.
Auch wenn in Brüssel hochrangige Beamte und Diplomaten beteuern, es gebe keine Brexit bill, so ist diese Zahl seitdem in der Welt. EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker gab bereits zu, dass sich die Austrittsrechnung in dieser Höhe bewegen werde. Der Brexit-Chefverhandler der EU, Michel Barnier, agiert bislang zurückhaltender. Ihm geht es darum, sich mit den Briten auf eine Methode zu einigen, wie die finanziellen Verbindlichkeiten berechnet werden.
Die Austrittsrechnung ist aus seiner Sicht keine Strafe, sondern ein unumgänglicher Ausgleich von Verpflichtungen, die Großbritannien als EU-Mitglied eingegangen ist. Bevor Barniers Brexit-Task-Force über ein künftiges Freihandelsabkommen mit London spricht, müssen aus EU-Sicht drei Dinge geklärt sein: die Rechte für EU-Bürger, die bereits in Großbritannien leben; das Verhältnis zwischen Irland und Nordirland; und eben jene Frage, wieviel das Vereinigte Königreich der EU schuldet.
Regierung in London pocht auf ordentliche Gütertrennung
Die Brüsseler Denkfabrik Bruegel hat die voraussichtliche Brexit bill in einer fast 60-seitigen Analyse aufgeschlüsselt. Das Ergebnis: Je nach Rechenmethode kommt auf Großbritannien eine Austrittsrechnung zwischen 25 und 65 Milliarden Euro zu. Das ist ein weites Feld. Und deshalb geben die Autoren einen Rat: Zu allererst sollten die Verhandler die Frage klären, ob es beim Brexit darum geht, eine Klub-Mitgliedschaft aufzukündigen oder eine eheähnliche Verbindung zu scheiden. Wer aus einem Sportklub austritt, hat keinen Anspruch auf das Eigentum des Vereins, also Gebäude oder Inventar. Bei einer Scheidung wiederum kommt alles auf den Tisch, von gemeinsamen Immobilien bis zum Weinkeller. Kein Wunder, dass die Regierung in London auf eine ordentliche Gütertrennung pocht. Sie beansprucht ihren Anteil an den Gebäuden der Gemeinschaft und wohl auch an den Weinen, die im EU-Ratsgebäude lagern.
Die Bruegel-Analysten kommen bei der Aufstellung britischer Verbindlichkeiten auf die Summe von 86,9 Milliarden Euro. Der größte Teil davon sind offene Rechnungen, im Brüsseler Bürokratenjargon reste à liquider (RAL) genannt. Wenn man so will, verhalten sich die EU-Mitglieder nicht anders als Gäste in einer Kneipe. Sie bestellen großzügig und schreiben gerne an. Die 27 EU-Staaten bestehen darauf, dass Großbritannien auch jene Lokalrunden bezahlt, die bereits bestellt wurden. Und das sind eine ganze Menge, etwa Investitionen, die über Jahre hinaus geplant sind. Die Autoren des Bruegel-Papiers weisen einen Betrag von 217 Milliarden Euro offener Rechnungen bis Ende 2018 aus - der britische Anteil läge dann bei knapp 30 Milliarden Euro.
Hinzu kommen weitere Milliarden-Verpflichtungen aus dem EU-Haushalt, aus Forschungsprogrammen und laufenden Strukturfonds. Allein die Kosten für die Pensionen von EU-Beamten liegen bei über 60 Milliarden Euro, wovon Großbritannien 7,7 Milliarden zu tragen hätte. Es gibt aber auch Geld, auf das die Briten Anspruch haben. Etwa jene gut 30 Milliarden Euro, welche die EU an Ausgaben im Vereinigten Königreich für die Zeit nach dem Brexit geplant hat; ebenso die britischen Beiträge zum EU-Haushalt. Und dann wäre da noch der mögliche Anteil Londons an Gemeinschaftsvermögen und vergebenen Darlehen - gut 18 Milliarden Euro.
Insofern sind die von Rogers genannten 60 Milliarden eine politische Zahl. In Brüssel gibt es bereits Kritik, dass Juncker sich überhaupt darauf eingelassen hat, diese auf Nachfrage britischer Medien zu bestätigen. Es gibt jedenfalls viel Spielmasse. Fest steht nur, dass die 27 EU-Staaten am längeren Hebel sitzen. Denn erst wenn sie "ausreichenden Fortschritt" in der Frage der Austrittsrechnung sehen, sind sie bereit, über die Bedingungen eines Handelsabkommens zu sprechen. Doch dieser "Fortschritt" ist, anders als die Brexit bill, nicht berechenbar.