Wie viel ist zu viel? Für SPD, Grüne und einige Mitglieder der CDU sind die Kundgebungen in Chemnitz, bei denen AfD-Funktionäre gemeinsam mit Rechtsextremen und Hooligans marschierten, Grund genug für eine bundesweite Observierung der Partei durch den Verfassungsschutz. "Die AfD hat sich offen zu rechtem Gedankengut bekannt. Wenn jemand diesen Staat bedroht, muss er beobachtet werden", sagte SPD-Generalsekretär Lars Klingbeil.
Die Bundesregierung hingegen sieht derzeit keinen Anlass für eine Beobachtung der Partei als Ganzes durch den Verfassungsschutz. Regierungssprecher Steffen Seibert sagte in Berlin, die Voraussetzungen seien gesetzlich festgeschrieben. Die Sicherheitsbehörden müssten entscheiden, "wann was getan werden muss".
Exklusiv Reaktionen auf Chemnitz:Grüne wollen AfD vom Verfassungsschutz beobachten lassen
"Man kann der AfD beim Radikalisieren zugucken", sagt Grünen-Chefin Annalena Baerbock. Auch Politiker anderer Parteien plädieren für ein härteres Vorgehen.
Anders verhält es sich offenbar mit der Jugendorganisation der AfD. Bremen und Niedersachen nehmen die Junge Alternative (JA) ins Visier - für die beiden Länder ist es offenbar schon jetzt zu viel. Die AfD-Nachwuchsorganisation in Bremen werde seit vergangener Woche beobachtet, teilte der Senat mit. Zu den Gründen machte er zunächst keine Angaben.
Nach Bremen hat auch Niedersachsen bekanntgegeben, dass sein Verfassungsschutz den AfD-Nachwuchs überwacht. Er habe in der vergangenen Woche entschieden, die JA zu beobachten, sagte Innenminister Boris Pistorius (SPD). Es handele es sich um eine verfassungsfeindliche Organisation. Eine strukturelle Nähe des niedersächsischen Jugendverbandes zum organisierten Rechtsextremismus sei unverkennbar. Die Entscheidung habe nichts mit den Ereignissen in Chemnitz zu tun, sagte Pistorius.
Der Bundesspitze der AfD-Jugend will wegen der Observierung durch den Verfassungsschutz seine Landesverbände in Niedersachsen und Bremen auflösen. Dies solle "zum Schutze der Gesamtorganisation" während eines außerordentlichen Bundeskongresses der Jugendorganisation der AfD beschlossen werden, teilte JA-Bundesvorsitzender Damian Lohr mit. Er nannte die Entscheidungen der Landesämter für Verfassungsschutz nicht nachvollziehbar. "Weder einzelne Landesverbände der JA, noch die Junge Alternative als Ganzes sind verfassungsfeindliche Organisationen, die sich gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland einsetzen", erklärte er.
Der AfD-Nachwuchs in Niedersachsen war im August durch den Vorsitzenden Lars Steinke und seine Äußerungen über Hitler-Attentäter Claus Schenk Graf von Stauffenberg in die Schlagzeilen geraten. "Stauffenberg war ein Verräter", hatte dieser in einem Facebook-Beitrag geschrieben. Der Braunschweiger Zeitung sagte er anschließend: "Ich kann den Heldenkult um Stauffenberg nicht verstehen." Von der Formulierung nahm er später Abstand, er habe der Partei nicht schaden wollen, sagte Steinke. Doch seine Äußerungen waren selbst der eigenen Partei zu viel. Steinkes Worte seien "bodenloser Schwachsinn", zitierte ein Sprecher AfD-Parteichef Alexander Gauland. "Stauffenberg ist ein Held der deutschen Geschichte." Der Landesvorsitzende Steinke wurde anschließend seines Amtes enthoben.
Generell gilt: Der Verfassungsschutz kann Parteien, Unterorganisationen oder einzelne Politiker beobachten, bei denen Bestrebungen gegen die demokratische Grundordnung erkennbar sind. Dazu gehören die im Grundgesetz festgeschriebenen Menschenrechte, die Unabhängigkeit der Gerichte, freie Wahlen und der Ausschluss jeder Gewaltherrschaft.
In Bayern wurde bereits der ehemalige Landesvorsitzende der AfD, Petr Bystron, beobachtet. Das endete allerdings offiziell, als dieser in den Bundestag einzog.
Die AfD-Spitze selbst findet es unverständlich, dass Politiker anderer Bundestagsparteien die Beobachtung ihrer Partei durch den Verfassungsschutz fordern. "Das ist absurd, denn wir sind eine demokratische Partei, die für einen starken Rechtsstaat eintritt", heißt es in einer veröffentlichten Erklärung von fünf AfD-Spitzenpolitikern, darunter die beiden Parteivorsitzenden Alexander Gauland und Jörg Meuthen. Sie hatten nicht an dem Marsch der AfD am Samstag in Chemnitz teilgenommen.
Auch der frühere Bundesinnenminister und Rechtsexperte Gerhart Baum (FDP) lehnt eine Beobachtung der gesamten AfD durch den Verfassungsschutz ab. Eine Partei beobachten zu lassen, sei das "letzte Mittel, vor dem Verbot", sagte er dem Evangelischen Pressedienst. Zudem gebe es genug verfassungsfeindliche Aussagen von Mitgliedern der AfD. "Der Erkenntnisgewinn durch eine Beobachtung wäre nicht groß", argumentierte Baum.
Der Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz, Hans-Georg Maaßen, hat sich in der aktuellen Debatte um die Beobachtung noch nicht geäußert. Er steht wegen Treffen mit mehreren AfD-Politikern in der Kritik.