Großbritannien:Ein verheerender Kuss

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Unrühmlicher Abgang: Gesundheitsminister Matt Hancock vor wenigen Tagen nach einem Treffen in 10 Downing Street, dem Sitz von Premierminister Boris Johnson. (Foto: TOLGA AKMEN/AFP)

Gesundheitsminister Matt Hancock tritt zurück, weil er die Corona-Kontaktsperre gebrochen hat - gerade jetzt, da die Delta-Variante im Königreich mehr als 18 000 Neuinfektionen verursacht.

Von Michael Neudecker, London

Jonathan Ashworth hat sich zwischendurch umgezogen, am Sonntagmorgen trug er ein helles Hemd statt des Poloshirts vom Vorabend, aber er saß immer noch da in seiner Küche in Leicester, im Hintergrund Obst, Tee und Kinderspiele, und redete über Matt Hancock. Der Labour-Politiker Ashworth hält im Vereinigten Königreich den Rang des "Shadow Health Secretary", das Pendant des Gesundheitsministers in der Opposition, weshalb er für die Fernsehsender am Wochenende ein gefragter Gesprächspartner war. Dem Wochenende, an dem der britische Gesundheitsminister Matt Hancock zurücktrat, weil er eine Frau geküsst hat.

Hancocks außereheliche Affäre beherrscht die Schlagzeilen in der an Schlagzeilen nicht armen britischen Medienlandschaft, schließlich sind Gesundheitsminister in Zeiten der Pandemie besonders bedeutsame Figuren des politischen wie gesellschaftlichen Lebens. In Großbritannien zumal, wo die Delta-Variante seit Wochen derart um sich greift, dass das Land gerade dringend ein seriös funktionierendes Gesundheitsministerium bräuchte und keines, das sich mit heimlichen Knutschereien beschäftigt.

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Matt Hancock war ein wichtiger Mann in der Pandemie. Doch weil er eine Mitarbeiterin küsste, als strikte Abstandsregeln herrschten, kann Premierminister Johnson seinen Minister nicht halten.

Dass die Konsequenzen erst Samstagabend folgten, ist aus Sicht der Opposition ein weiteres Zeichen für das Versagen Boris Johnsons. "Wenn er Rückgrat und Gespür hätte, dann hätte er ihn sofort rausgeworfen", sagte Ashworth, wie praktisch alle anderen Oppositionspolitiker. Selbst einige Abgeordnete der Tories vertraten diese Auffassung, wenngleich sie sich weniger drastisch ausdrückten.

Innige Umarmung statt Abstand

Die letzten Tage von Matt Hancock in seinem Amt begannen am Donnerstagabend mit einem Anruf. Das Boulevardblatt The Sun war an Aufnahmen einer Überwachungskamera gekommen, die den 42-jährigen Hancock in innigem Kontakt mit der 43-jährigen Gina Coladangelo zeigen, die beiden umarmen und küssen sich. Die Aufnahmen stammen angeblich vom 6. Mai, einem Tag also, an dem im Königreich noch strenge Kontaktregeln galten - explizit nicht erlaubt war, Menschen zu umarmen, die nicht zum eigenen Hausstand gehören, von küssen ganz zu schweigen.

Hinzu kommt, dass Gina Coladangelo, die Hancock bereits seit Studienzeiten kennt, als Lobbyistin und Beraterin für ihn arbeitet, offenbar von ihm selbst eingestellt, bezahlt mit Steuergeldern. Als die Sun bei Hancock anrief, um ihn auf die bevorstehende Berichterstattung hinzuweisen, soll Hancock seine Frau über die Affäre und das nun bevorstehende Ende der Ehe informiert haben, sogar das achtjährige und jüngste der drei Kinder habe er geweckt, heißt es. Martha Hancock habe nichts geahnt, sie habe ihre Ehe als "glücklich und gefestigt" bezeichnet.

Als Boris Johnson sich am Freitag in der Angelegenheit äußerte, sagte er, Hancock habe sich bei ihm entschuldigt, er betrachte die Angelegenheit damit als erledigt. Eine Fehleinschätzung, die er wahrscheinlich nicht mehr so schnell los wird.

Auch Tory-Abgeordnete forderten den Rücktritt

Dass der Gesundheitsminister eine außereheliche Affäre hat, wäre wohl noch als private Verfehlung abgeheftet worden, eine Affäre mit einer von der Öffentlichkeit bezahlten Lobbyistin aber, zu einer Zeit, in der er selbst diese Öffentlichkeit eindringlich beschwor, jeglichen Kontakt zu den Mitmenschen streng einzuschränken, das macht die Sache doch etwas schwerwiegender. Als sich am Samstag auch Abgeordnete der Tories öffentlich für einen Rücktritt Hancocks aussprachen, war klar, dass er nicht mehr haltbar war.

Am Abend veröffentlichte Hancock ein eine Minute und 21 Sekunden langes Video: Er entschuldige sich bei der Öffentlichkeit und seiner Familie. "Diejenigen, die die Regeln machen, sollten sich selbst daran halten", sagt Hancock in dem Video, "und deshalb trete ich zurück". Kurz darauf gab auch Gina Coladangelo, die wie Hancock verheiratet ist und drei Kinder hat, bekannt, dass sie das Gesundheitsministerium mit sofortiger Wirkung verlassen werde.

Als Nachfolger Hancocks setzte Johnson noch am selben Abend Sajid Javid ein. Der 51-Jährige war Innenminister in Theresa Mays Kabinett und Finanzminister in Johnson erster Regierung, trat 2020 aber nach einem Streit mit Johnson und dessen damaligem Chefberater Dominic Cummings zurück. Javid hat nun wenig Einarbeitungszeit in seine neue Rolle, die Pandemie ist im Königreich ja wieder sehr präsent: Am Samstag wurden 18 270 neue Fälle registriert, so viele wie sei Februar nicht mehr.

Rückkehr ins Kabinett: Sajid Javid war im Streit mit Johnsons ehemaligem Berater Dominic Cummings als Finanzminister zurückgetreten. Jetzt übernimmt er das Gesundheitsressort. (Foto: BEN STANSALL/AFP)

Erst kürzlich musste Johnson den viel beschworenen "freedom day", den Tag, an dem alle Beschränkungen fallen, um einen Monat auf den 19. Juli verschieben, und dass in London mehrere Spiele der Fußball-Europameisterschaft mit Zehntausenden Fans stattfinden, trifft inzwischen nicht mehr ausschließlich auf Begeisterung.

Wenngleich das immer noch beeindruckend gut funktionierende Impfprogramm offensichtlich dazu beiträgt, dass vergleichsweise wenige Menschen ernsthaft erkranken, im Moment jedenfalls. Gerade die Impfquoten - am Samstag waren 83 Prozent der erwachsenen Bevölkerung einmal, 61 Prozent zweimal geimpft - betonte Matt Hancock zuletzt oft, für ihn waren sie Zahlen seines Erfolgs als Politiker.

Nun holt ihn nicht nur seine private Vergangenheit ein. Die Times berichtete am Sonntag, es gebe Ermittlungen, Hancock habe zu Beginn der Pandemie, während er Verhandlungen über milliardenschwere Verträge führte, immer wieder nicht sein offizielles E-Mail-Konto benutzt, sondern sein privates.

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