Bildungs-Demo in NRW:Mengenlehre auf der Straße

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Große Schulklassen, hohe Gebühren, keine Chancen? Kurz vor der Landtagswahl demonstrieren in Düsseldorf Schüler und Studenten gegen die Bildungspolitik.

Michael König, Düsseldorf

Vanessa schwänzt. Eigentlich müsste sie jetzt in der Gesamtschule in Witten sein, vierte Stunde, Mathe-Leistungskurs. Sie säße mit 36 anderen Schülern in einem Raum. "Es ist eine Zumutung", sagt Vanessa. "Wenn da Unruhe aufkommt, hat der Lehrer verloren." Ihr Lehrer sieht das genauso. Deshalb hat er sie und alle anderen Schüler aufgefordert, heute blauzumachen - und zur Bildungs-Demo nach Düsseldorf zu fahren.

Die Initiative "Bildungsstreik" hat zur Demo aufgerufen. Sie fordert ein "gerechtes, an menschlichen Bedürfnissen und gesellschaftlicher Verantwortung orientiertes Bildungssystem" (Foto: Foto: ddp)

Jetzt steht Vanessa auf dem Vorplatz des Düsseldorfer Hauptbahnhofes, der sich allmählich mit Schülern und Studenten füllt. Mit 1000 Demonstranten rechnen die Veranstalter. Sie wollen durch die Innenstadt in Richtung Landtag ziehen, wo weitere 2500 Menschen erwartet werden.

Die Demonstranten skandieren "Bildung für alle, und zwar umsonst" und "Bildung für alle, nicht nur für eine Klasse". Viele der Teilnehmer haben Plakate und Spruchbänder gebastelt: "Schwarz-Gelb = Chancentod" ist darauf zu lesen oder "Wer nicht zahlt, bleibt dumm." Fliegende Händler verkaufen Trillerpfeifen für einen Euro. Etliche Megafone sind im Einsatz und verursachen einen Höllenlärm.

Kurz vor der Landtagswahl am kommenden Sonntag will die Initiative "Bildungsstreik", die zur Demo aufgerufen hat, ihrer Forderung nach einem "gerechten, an menschlichen Bedürfnissen und gesellschaftlicher Verantwortung orientierten Bildungssystem" Ausdruck verleihen. Das heißt konkret: kleinere Schulklassen, mehr Lehrer, keine Studiengebühren.

Auch Jan Frederik ist zur Demo gekommen, um gegen die Bildungspolitik der Landesregierung zu protestieren. Etwa 700 Euro muss er im Semester aufbringen - 500 Euro Studiengebühren plus 200 Euro Sozialbeitrag. Der 22-Jährige studiert Philosophie an der Uni Düsseldorf. "Ohne die Unterstützung meiner Eltern geht es nicht. Sonst müsste ich nebenbei arbeiten, aber das ginge nur am Wochenende." In der Woche müsse er fleißig sein, um in der Regelstudienzeit seinen Bachelor-Abschluss zu schaffen.

Das System mit Bachelor und Master wurde einst eingeführt, um die Studienabschlüsse europaweit vergleichbar zu machen und den Wechsel ins Ausland zu ermöglichen. "Totaler Quatsch", sagt Jan Frederik. "Ich habe einen Kumpel, der wegen bürokratischer Hürden nicht einmal von Düsseldorf nach Wuppertal wechseln konnte."

Es ist mittlerweile 11:15 Uhr, die Demo setzt sich in Bewegung. Zunächst geht es nur 500 Meter vorwärts, vor dem DGB-Gewerkschaftshaus in der Friedrich-Ebert-Straße stoppt die Kolonne. Die Lautsprecheranlage auf dem angemieteten Lkw streikt - Gelegenheit für die Demonstranten, sich gegenseitig zu übertönen.

Die Grüne Jugend ist stark vertreten, ihre Mitglieder verteilen Flyer, die gemeinsam mit den Jusos der SPD erstellt wurden. "Die Bilanz der schwarz-gelben Landesregierung ist vernichtend", steht darauf. "Deshalb am 9. Mai 2010 Rot-Grün wählen." Die Landessprecherin der Grünen Jugend, Verena Schäffer, nennt die Situation in den Schulen NRWs einen "absoluten Wahnsinn". Es müsste schnell gehandelt werden: "Mit der SPD könnten wir das, mit der CDU kann sich das niemand von uns vorstellen."

Statt mit Mathematik beschäftigen sich viele Schüler und Studenten an diesem Vormittag mit politischer Mengenlehre. In aktuellen Wahlumfragen hat Schwarz-Grün eine Mehrheit, Rot-Grün hingegen nicht. Die Spitzenkandidatin der SPD, Hannelore Kraft, will die Schüler länger gemeinsam lernen lassen, statt wie bisher vier Jahren Grundschule und dem anschließenden Wechsel auf eine weiterführende Schule (Hauptschule, Realschule, Gymnasium) soll es eine Gemeinschaftsschule geben. Studiengebühren sollen schrittweise abgeschafft werden - bis Mitte der Legislaturperiode.

Um diesen Plan durchzusetzen, werden SPD und Grüne womöglich mit der Linken zusammenarbeiten müssen. Offiziell wollen das jedoch weder Kraft noch die Grünen, deren Spitzenkandidatin Sylvia Löhrmann eine Koalition mit der CDU nicht ausgeschlossen hat.

Bei der Demo zeigt sich, dass auch bei vielen Linken Rot-Rot-Grün keine Wunschoption ist. "Wer hat uns verraten? Sozialdemokraten! Wer war mit dabei? Die grüne Partei!", brüllen Anhänger der Linken, deren Spitzenkandidat Wolfgang Zimmermann ebenfalls auf der Demo erschienen ist. Sie halten die rot-grüne Forderung nach einer schrittweisen Abschaffung der Studiengebühren für verlogen, weil SPD und Grüne einst die Studienkonten für Langzeitstudenten eingeführt haben - bevor Schwarz-Gelb unter Ministerpräsident Jürgen Rüttgers im Jahr 2005 die Macht übernahm.

Die CDU will am traditionellen Schulsystem festhalten, auch die Studiengebühren sollen bleiben. Rüttgers sagt, das sei sozial - schließlich könnten Bafög-Empfänger einen Kredit aufnehmen und ihn abzahlen, wenn sie einen Job gefunden haben. Die FDP, die weiterhin ausschließlich mit der CDU koalieren will, hält moderate Korrekturen des Schulsystems für nötig.

Vanessa aus Witten sagt, sie würde die Grünen wählen - wenn sie dürfte. Nach dem Abitur will die 17-Jährige studieren, doch der hohe Numerus clausus (NC) vieler Universitäten schreckt sie ab. "In der Schule werden wir schlecht ausgebildet, dann scheitern wir am NC oder müssen uns verschulden, weil wir Gebühren zahlen müssen", klagt sie. Vanessa weiß, dass die Reform des Schulsystems für sie wohl zu spät käme. Sie sagt: "Wir müssen das jetzt für unsere Geschwister, Cousins und Cousinen machen. Damit es denen mal besser geht."

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