Bundestag:"Das erinnert mit Schrecken an die Verbrechen der Nationalsozialisten"

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Vor dem Gebäude in der Berliner Brunnenstraße ermitteln Polizisten. (Foto: Christoph Soeder/DPA)

Mitglieder aller Fraktionen beklagen die jüngsten antisemitischen Attacken. Nach gewalttätigen propalästinensischen Protesten warfen Unbekannte in Berlin Molotowcocktails auf ein Haus mit jüdischen Einrichtungen.

Von Jan Heidtmann, Berlin

Auf den Straßen der Hauptstadt eskalieren seit Tagen propalästinensische Demonstrationen und Ausschreitungen gegen jüdische Einrichtungen. Gegen 3.45 Uhr in der Nacht zum Mittwoch attackierten nach Angaben der Berliner Polizei zwei vermummte Angreifer ein Gebäude im Berliner Bezirk Mitte. In dem Haus befinden sich mehrere jüdische Einrichtungen, darunter eine Synagoge und Schulräume.

Die bislang unbekannten Täter verfehlten die Einrichtungen jedoch, die beiden Molotowcocktails landeten auf dem Bürgersteig und wurden dort von einem Sicherheitsangestellten gelöscht. Gegen acht Uhr am Morgen nahm die Polizei einen Mann kurzzeitig fest, der in Richtung des Gebäudes laufen wollte. Bei der Festnahme rief der Mann nach Angaben der Polizei volksverhetzende und israelfeindliche Parolen. Die Staatsschutzabteilung des Landeskriminalamtes hat die Ermittlungen übernommen.

"Wer Antisemit ist, wird nicht Deutscher werden können", sagt ein FDP-Politiker

Am Mittwochabend hielt eine von Nachbarn organisierte Initiative eine Mahnwache gegen Antisemitismus an der Synagoge ab, nach Angaben der Veranstalter und der Polizei kamen rund 50 Menschen. Bundeskanzler Olaf Scholz äußerte sich am Mittwoch bei einem Besuch in Kairo zu dem Anschlag in Berlin: "Da müssen die Versammlungsbehörden das Ihre tun, zum Schutz der jüdischen Einrichtungen die Polizei. Und das werden wir auch machen und alles verstärken."

In der aktuellen Stunde des Bundestages am Mittwoch zeigten sich Mitglieder aller Fraktionen bestürzt über die Attacken. "Das erinnert mit Schrecken an die Verbrechen der Nationalsozialisten", sagte Lamya Kaddor, Abgeordnete der Grünen angesichts des Anschlags auf die jüdischen Einrichtungen in Berlin Mitte. Das Versprechen "Nie wieder" müsse von allen ernst genommen werden. "Nie wieder ist jetzt."

Benjamin Strasser, Staatssekretär im Bundesjustizministerium, reagierte auf die Vorhaltungen der AfD, die Bundesregierung tue zu wenig gegen Antisemitismus. Vielmehr würden in Deutschland nun erstmals die Terrororganisation Hamas und andere radikal-palästinensische Vereine wie Samidoun verboten. Auch seien Änderungen im Staatsangehörigkeitsrecht geplant, sagte der FDP-Politiker. "Wer Antisemit ist, wird nicht Deutscher werden können."

Der Bundesverband der Recherche und Informationsstellen Antisemitismus (RIAS) hat seit dem 7. Oktober in Deutschland insgesamt 202 antisemitische Vorfälle dokumentiert. Im selben Zeitraum des Vorjahres waren es 59 Fälle. In den vergangenen Tagen machten den größten Teil davon bei Protesten skandierte antiisraelische und antisemitische Parolen aus, so RIAS. In einigen, wenigen Fällen sei es auch zu Attacken gekommen. So sind in Kiel Teilnehmer einer Solidaritätskundgebung für Israel bespuckt worden.

E-Scooter wurden angezündet, auch auf einem Spielplatz soll es gebrannt haben

Am Dienstagabend hatten sich in Berlin die bisher gewalttätigsten propalästinensischen Proteste seit dem Überfall der Hamas auf Israel ereignet. Dabei bildeten sich in Berlin-Neukölln immer wieder kleinere Gruppen von Demonstranten, die rund um den Hermannplatz und die Sonnenallee kleinere Straßenbarrikaden errichteten. Dafür wurden nach Angaben der Feuerwehr E-Scooter angezündet, auch auf einem Spielplatz soll es gebrannt haben.

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Die etwa 40 Einsatzkräfte der Feuerwehr konnten die Brandherde nur mithilfe der Polizei löschen. Die Beamten wurden dabei immer wieder mit Flaschen und Steinen attackiert. Auf Videos in den sozialen Medien ist auch zu sehen, wie Polizisten mit Silvesterböllern beworfen werden. Die Polizei setzte schließlich Wasserwerfer ein, um die Brandherde zu löschen.

Zugleich war es auch rund um das Brandenburger Tor zu Ausschreitungen gekommen. Dort hatten sich am frühen Dienstagabend mindestens 300 Menschen spontan zu einer vorerst friedlichen propalästinensischen Mahnwache versammelt. Nach Berichten des RBB sollen dann aus der stetig wachsenden Menge auch Parolen wie "Kindermörder Israel" und "Free Palestine" gerufen worden sein. Einige Protestierende sollen zudem Polizisten attackiert haben. Das Holocaust-Mahnmal unweit des Brandenburger Tor wurde von Polizisten mit Hunden bewacht.

Als Auslöser für die bisher härtesten propalästinensischen Proteste wird auch der Raketeneinschlag in ein Krankhaus in Gaza-Stadt gesehen. Nach Ermittlungen der israelischen Armee handelt es sich dabei um eine fehlgeleitete Rakete militanter Palästinenser, die Hamas gibt an, die israelische Armee habe das Krankenhaus beschossen. Die radikal-palästinensische Gruppe Samidoun hatte nach dem Angriff über die sozialen Medien für Proteste mobilisiert. In den vergangenen Tagen hatte der Verein mit Appellen wie "Geht zur Sonnenallee" oder "Jetzt auf die Straßen. Gegen den Genozid in Gaza" immer wieder zu Demonstrationen aufgerufen.

"Das sind Bilder, die ich aus der deutschen Hauptstadt nicht mehr sehen möchte"

"Unsere Polizei arbeitet derzeit an der Belastungsgrenze", sagte Berlins Regierender Bürgermeister Kai Wegner (CDU) in der Talkshow "Markus Lanz". Sie wurde am Dienstagabend zum Zeitpunkt der Ausschreitungen ausgestrahlt, von denen Wegner bei der Aufzeichnung gegen 20.30 Uhr offensichtlich noch nichts wusste. Auf die propalästinensischen Proteste in Berlin insgesamt bezogen sagte Wegner bei Lanz: "Das sind Bilder, die ich aus der deutschen Hauptstadt nicht sehen möchte."

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Die Berliner Polizei hat seit dem Überfall der Hamas auf Israel nahezu alle propalästinensischen Kundgebungen in der Stadt verboten. Trotzdem kam es in Berlin-Neukölln am Mittwochabend erneut zu Menschenansammlungen. Die Polizei sprach von einer aufgeheizten Stimmung auf der Sonnenallee. Es werde Pyrotechnik abgebrannt, es würden Steine und Flaschen auf Polizisten geworfen. Es gebe Widerstand gegen Festnahmen von Tatverdächtigen, sodass die Beamten "unmittelbaren Zwang anwenden" müssten. Laut Polizei gab der Einsatzleiter die Freigabe für einen Wasserwerfer. Auch am Auswärtigen Amt versammelten sich nach Polizeiangaben mehrere Hundert Menschen. Die Versammlung gegen Gewalt in Nahost wurde demnach jedoch direkt von der Veranstalterin beendet, weil sie keinen Einfluss auf die Teilnehmer habe.

Nachdem eine am Mittwochnachmittag geplante Demonstration "Jugend gegen Rassismus" ebenfalls verboten worden war, kritisierte die Initiative Palästina Kampagne die strikten Demonstrationsverbote. "Wenn der deutsche Staat der palästinensischen Community konsequent das Grundrecht verweigert, zu protestieren, öffentlich zu trauern oder ihre Identität zum Ausdruck zu bringen, ist ziviler Ungehorsam fast vorprogrammiert."

Bereits am Sonntagabend war es zu größeren antiisraelischen Ausschreitungen am Potsdamer Platz gekommen. Aufgerufen über die sozialen Netzwerke, versammelten sich dort etwa 500 Menschen, fast 130 von ihnen nahm die Polizei im Verlauf des Protests fest.

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