Demohauptstadt Berlin:Berlins Nimbus - mit Gewalt erarbeitet

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"Am Ende eines Weges angekommen": Aktivisten der "Letzten Generation" wollen sich künftig nicht mehr - wie hier im vergangenen Mai in Berlin - auf Straßen festkleben. (Foto: Paul Zinken/dpa)

Nirgendwo in Deutschland wird mehr demonstriert als in der Bundeshauptstadt. Das hat natürlich viel damit zu tun, dass sie Sitz der politischen Macht in der Republik ist. Aber es gibt da noch einen anderen Grund.

Von Jan Heidtmann, Berlin

In der langen Reihe von politischen Veranstaltungen, Kundgebungen und Demonstrationen an diesem Tag nimmt die Dame mit der rosa Jacke und dem bunten Tuch um den Kopf eine besondere Stellung ein. Nicht nur, weil sie seit zwei Stunden regungs- und sprachlos mit flehentlich erhobenen Armen auf der Jannowitzbrücke in Berlin-Mitte steht. Sie gehört zu der religiösen Bewegung Falun Gong aus China, auch Falun Dafa genannt. Seit mehr als 20 Jahren halten deren Mitglieder hier eine Mahnwache ab, Tag für Tag und damit länger und dauerhafter als jede andere Gruppierung in der Hauptstadt. So wollen sie ihre Verfolgung durch die chinesische Regierung anprangern; genau gegenüber thront das riesige Gebäude der chinesischen Botschaft in Berlin.

Die diplomatischen Vertretungen sind nur ein Grund, weshalb in Berlin so viel demonstriert wird wie in keiner anderen Stadt der Republik. Dass die Landwirte hier vor wenigen Tagen mit ihren Traktoren lärmend protestierten, lag daran, dass in Berlin eben auch die Bundesregierung sitzt. Ein Auslöser für die vielen propalästinensischen Demonstrationen in der Stadt seit Beginn des Kriegs im Gaza-Streifen ist wiederum die große arabische Community in Berlin. Ganz grundsätzlich gilt: Wenn sich in der Welt etwas tut, bekommt man es auch in Berlin zu spüren. An die 7000 politische Kundgebungen gibt es hier im Jahr. Zur Mietenpolitik, für Veganismus oder gegen Pullover aus Kaschmirwolle, irgendetwas ist immer.

Den Nimbus als Proteststadt hat sich Berlin in den späten 1980er-Jahren gewaltsam erarbeitet. Damals begannen die Auseinandersetzungen zwischen Hausbesetzern und der Polizei, die 1988 die berüchtigte Tradition der Erster-Mai-Demonstrationen begründeten. Über Jahre trat dabei die linke Szene der Stadt gegen die Polizei an, die Proteste endeten regelmäßig in Straßenschlachten. Inzwischen ist jedoch jeder Jahreswechsel in der Stadt von mehr Gewalt begleitet als der 1. Mai. Aber der Mythos der "Revolutionären Demo" hat sich gehalten: Immer wieder irren an diesem Tag Touristen auf der Suche nach dem Spektakel durch die Straßen.

Die Zahl der Demonstrationen in Berlin hat in den vergangenen Jahren zwar sprunghaft zugenommen, aber die meisten verlaufen weitgehend friedlich. Das liegt nicht nur daran, dass die radikale linke Szene längst nicht mehr so geschlossen und gewaltbereit ist wie einst. Auch die Polizei hat dazugelernt. Sie versucht, die Proteste durch Gespräche mit den Veranstaltern nicht erst eskalieren zu lassen. Dazu gehört aber auch, dass einzelne Gewalttäter schnell herausgegriffen werden und die Polizei oft mit einem massiven Aufgebot antritt.

Die Schwäche dieser Strategie zeigt sich immer dann, wenn die Beamten mit neuen Formen des Protestes konfrontiert sind. So hat die Polizei anfangs die Demonstrationen gegen die Corona-Politik komplett unterschätzt. Nur so konnte es im Sommer 2020 rund hundert Menschen gelingen, die Stufen des Reichstagsgebäudes zu stürmen. Ähnlich erging es der Polizei, als sich seit Januar 2022 Klimaschützer der "Letzten Generation" regelmäßig auf den Straßen der Stadt festklebten und so den Verkehr blockierten.

Es dauerte ein paar Monate, bis die Beamten ein wirksames Mittel gegen die neue Protestform gefunden hatten. Seitdem führen viele Mannschaftswagen eine Flasche mit Speiseöl, einen Spatel oder einen Pinsel mit. Damit konnten die Hände der Aktivisten vom Asphalt gelöst werden. Zuletzt in Minutenschnelle.

Warum Kleben als Protestform nicht mehr funktioniert

Dies war allerdings nur einer der Gründe, weshalb die "Letzte Generation" am vergangenen Montag das Aus für den "Klimakleber" verkündete. "Das Festkleben war wichtig, um nicht direkt von der Straße gezogen zu werden und somit unignorierbar protestieren zu können", schreibt die Gruppe. Als die Aktivisten am Freitag dann auf dem Berliner Alexanderplatz ihren ungenutzten Klebstoff verschenkten, titelte die Bild-Zeitung in alter Manier: "Hier verschenken die Klima-Kriminellen ihren Klebstoff".

Richtig ist, dass diese Methode des Protestes äußerst unpopulär war: theoretisch, weil sie sich nicht treffsicher an die Verursacher der Klimakatastrophe wendet; ganz praktisch, weil sie die Autofahrer schlicht nervt. Zuletzt war das Klimakleben auch innerhalb der "Letzten Generation" umstritten.

Durch die heftige Kritik und die Anfeindungen sei es immer schwieriger geworden, Aktivisten für die "Letzte Generation" zu gewinnen, heißt es bei der Gruppe. Dazu kommen zahlreiche Verfahren bei den Staatsanwaltschaften. Allein in Berlin sind bislang 3700 geführt worden. Die Protestform sei zu kräftezehrend, um sie weiterzuführen, sagt Lars Werner, der mehrere Wochen in sogenannter Präventivhaft verbrachte, weil er in Bayern an Straßenblockaden teilgenommen hat. Sie seien jetzt "am Ende eines Weges angekommen".

Von März an will die Gruppe zu "ungehorsamen Versammlungen" aufrufen und die mutmaßlichen Verursacher der Klimakatastrophe direkt konfrontieren. An Pipelines, Flughäfen oder auch einzelne Vertreter auf Veranstaltungen. Vorbild dafür sind die Aktionen der amerikanischen Klimaschutzgruppe "Climate Defiance", die immer wieder Auftritte von Politikern und Konzernvorständen medienwirksam stören. Einen ersten Versuch unternahm die "Letzte Generation" auf der Grünen Woche, als sie eine Rede von CDU-Chef Friedrich Merz kurzzeitig unterbrach. Ziel sei es, "einen Ausnahmezustand zu erzeugen", der die Regierung dazu zwinge, ihre Klimapolitik zu ändern, sagt Werner.

Für den Samstag hat die "Letzte Generation" aber erst einmal eine lange geplante Demonstration in Berlin abgesagt. Stattdessen ruft sie dazu auf, an den Protesten gegen Rechtsextremismus und die AfD teilzunehmen. Zuvor hatten bereits die Aktivisten von "Fridays for Future" den Klimaschutz vorerst hintangestellt und unter ihren Sympathisanten für die Großdemonstration an diesem Samstag geworben: Erst die Demokratie retten, dann das Klima. Dabei wird wieder einmal das Reichstagsgebäude die Kulisse für die Proteste sein. Doch diesmal geht es nicht darum, es zu stürmen, sondern darum, es zu schützen. Mit einer Menschenkette.

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